"Selbstständig - aber oft arm" titelt die FAZ in einem Bericht über eine aktuelle Studie des DIW, verfasst von Prof. Alexander Kritikos und zwei Jenaer Kollegen. Die Medien heben damit (wieder einmal) einseitig einen negativen Aspekt heraus und bestätigen Vorurteile oberflächlicher Leser, Selbstständige seien doch alle nur Kümmerexistenzen, die der Gesellschaft später auf der Tasche lägen.
Mit der ebenfalls wahren Aussage, dass das monatliche Nettoeinkommen von Selbstständigen im Mittel deutlich höher ist als von Angestellten, aber sehr viel breiter streut, lässt sich eben keine Auflage machen. Ihre Pressemitteilung hatte das DIW überschrieben mit "Und Selbstständigkeit lohnt sich doch" und weiter: "Alexander Kritikos ... widerspricht damit einem weit verbreiteten Vorurteil, viele Selbstständige würden ein Kümmerdasein fristen". (Zum Interview mit Prof. Kritikos über die Interpretation der Studie.) Die eigentliche Aussage der Studie wird durch die FAZ und andere Medien also komplett verdreht.
Wir fassen im folgenden die wichtigsten Ergebnisse der Studie zusammen und verlinken am Ende auf das den gut lesbaren Bericht, der unter dem Titel "Verdienen Selbstständige tatsächlich weniger als Angestellte?" im DIW-Wochenbericht 7/2015 erschienen ist. Wir besprechen die Zahlen relativ ausführlich, denn auf sie werden wir sicherlich immer wieder zurückgreifen - sei es bei Gesprächen mit der Politik, mit Medien - oder am Stammtisch.
Wie das Einkommen der Selbstständigen untersucht wurde
- Für die Studie wurden Daten des Mikrozensus aus dem Jahr 2009 ausgewertet. Diese jährlich durchgeführte repräsentative Befragung von 820.000 Personen ist die umfangreichste und zuverlässigste Datenquelle zu Gründern und Selbstständigen in Deutschland. Nachteil: Die Daten stehen nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung zur Verfügung.
- Die Daten sind repräsentativ und lassen sich auf die Gesamtbevölkerung hochrechnen. Demnach gab es 2009 4,2 Millionen Selbstständige, von denen 2,3 solo-selbstständig waren und 1,9 weitere abhängig Beschäftigte hatten. Dem standen 36,5 Millionen abhängig Beschäftigte gegenüber. Jeder zehnte Erwerbstätige ist also selbstständig.
- Die Leitfrage der Studie: Warum entscheiden sich viele Menschen für die Selbstständigkeit, wenn sie - wie häufig angenommen - ein höheres Risiko in Bezug auf die Höhe ihres Einkommens tragen und viele von ihnen weniger verdienen als Angestellte? Überschätzen sie ihre Verdienstmöglichkeiten? Motiviert sie die größere Unabhängigkeit? Oder geben sie tendenziell geringe Einkünfte an, als sie tatsächlich erzielen?
- Da die Selbstständigen eine extrem heterogene Gruppe ist, unterscheidet der Bericht nach Selbstständigen mit und ohne Mitarbeiter sowie nach Charakteristika wie Ausbildung, Alter und Dauer der Selbstständigkeit.
Unser durchschnittliches Nettoeinkommen im Vergleich mit Angestellten
- Durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen (nach Abzug von Steuern und Ausgaben für staatliche und entpsrechende private Versicherungen): Abhängig Beschäftigte 1.534 Euro, Solo-Selbstständige 1.704 Euro, Selbstständige mit Beschäftigten 3.338 Euro.
- Durchschnittliches Nettoeinkommen pro Arbeitsstunde: Abhängig Beschäftigte verdienen 11,51 Euro, Solo-Selbstständige 14,28 Euro, Selbstständige mit Beschäftigten 17,25 Euro.
- Selbstständige ohne bzw. mit Mitarbeitern verdienen also durchschnittliche drei bzw. sechs Euro mehr *netto* pro Stunde.
- Von mir überschlägig berechnete durchschnittliche Wochenarbeitszeit (unter der Annahme, dass die Jahresarbeitszeit sich auf 44 Wochen verteilt): Abhängig Beschäftigte 36,3 Stunden, Solo-Selbstständige 33,5 Stunden, Selbstständige mit Mitarbeitern: 52,8 Stunden.
- Solo-Selbstständige sind also vermutlich häufiger als Angestellte in Teilzeit tätig, zum Beispiel weil sie Familienarbeit übernehmen.
Typische Einkommen im Vergleich: Median-Selbstständige versus Median-Angestellte
- Sowohl bei Angestellten als auch Selbstständigen sind die Einkommen nicht gleichmäßig um den Mittelwert verteilt, sondern es gibt, gerade bei Selbstständigen und insbesondere bei solchen mit Mitarbeitern viele mit sehr hohem Einkommen, die den Einkommensdurchschnitt nach oben verzerren. Deshalb betrachten Wissenschaftler typische Einkommen: Wenn man 100 Einkommensbezieher der Reihe nach sortiert, was verdient dann der 10., der 25., der 50. (= Median), der 75. usw.?
- Monatliche Median-Nettoeinkommen: Abhängig beschäftigte 1.400 Euro, Solo-Selbstständige 1.400 Euro, Selbstständige mit Beschäftigten: 2.450 Euro
- Median-Nettoeinkommen pro Arbeitsstunde: Abhängig beschäftigte 10,00 Euro, Solo-Selbstständige 9,38 Euro, Selbstständige mit Beschäftigten: 12,25 Euro
- An dieser Stelle zeigt sich also zum ersten Mal eine Zahl, derzufolge typische Solo-Selbstständige pro Stunde weniger verdienen als Angestellte, nämlich 6% weniger. Selbstständige mit Angestellten verdienen dagegen 22% mehr pro Stunde.
Größere Spannbreite beim Einkommen - nach unten und nach oben
- Die Spannweite der Einkommen ist bei Selbstständigen sehr viel größer als bei Angestellten, nach unten und nach oben.
- Betrachtet man die Schwankungen nach unten, so ist der Mindestlohn von 8,50 Euro ein relevanter Maßstab. Er entspricht ungefähr einem Nettostundelohn von 5,00 Euro. 10% der abhängig Beschäftigten lag 2009 unter diesem Stundensatz, 18% der Solo-Selbstständigen und 10% der Selbstständigen mit Mitarbeitern.
- Die von den Medien herausgepickten Aussagen sind also korrekt - aber zeichnen ein einseitiges Bild der Lage, wie die folgenden Beispiele zeigen.
- 90% der Selbstständigen mit Mitarbeitern verdienen mehr als abhängig Beschäftigte. Wenn man statt dem Nettoeinkommen pro Stunde das monatliche Einkommen heranzieht, ist der Prozentsatz noch weit höher..
- Bei den Solo-Selbstständigen sind es immerhin 40%, die pro Stunde gesehen mehr als Angestellte verdienen - und das obwohl es sich häufiger um Tätigkeiten in Teilzeit handelt, die tendenziell schlechter bezahlt sind.
- Das die Standardabweichung als Maß für die Streuung des Einkommens bei Selbstständigen deutlich (um mehr als das Dreifache) höher ist als bei Angestellten überrascht nicht, wohl aber, dass sie bei den Solo-Selbstständigen noch etwas höher ist als bei den Selbstständigen mit Mitarbeitern. Hinter Solo-Selbstständigkeit verbergen sich also extrem heterogene Erwerbsformen - von der schlecht bezahlten Teilzeit-Selbstständigkeit bis zum hoch bezahlten IT-Freiberufler. Hier hätte unseres Erachtens die familiäre Situation (handelt es sich "nur" um einen Zuverdienst?) in der Studie stärker thematisiert werden sollen.
Welchen Einfluß haben Ausbildung, Alter und Familiensituation auf das Einkommen?
- Eine Vielzahl von Größen bestimmt die Einkommenserwartung von Selbstständigen. Die Größe und Signifikanz ihres Einflusses wurde mit statistischen Methoden ermittelt.
- Einen signifikanten positiven Einfluß auf die Höhe des Monatsnettoeinkommens hatten neben dem Vorhandensein von Beschäftigten und der Zahl der Arbeitsstunden: Alter des Selbstständigen und Dauer der Selbstständigkeit, Höhe des Bildungsabschlusses und deutsche Staatsbürgerschaft. Männer verdienten signifikant mehr als Frauen, auch Kinder im Haushalt wirkten sich positiv auf das Einkommen aus.
- Dagegen führte die Variable "ist verheiratet" zu einem geringeren Einkommen. Eine mögliche Erklärung: Selbstständige, die mit einem gut verdienenden Partner verheiratet sind, stehen meist unter geringerem Druck, einen tragfähigen / höheren Stundenlohn zu erzielen.
Abitur - dann verdient man als Selbstständiger mehr!
- Interessante Befunde gab es auch im Detail: Wer Abitur hat, aber keinen weiteren Bildungsabschluss, fährt als Solo-Selbstständiger deutlich besser als in der Anstellung, vermutlich weil dort die formale Qualifikationen einen höheren Einfluß auf die Entlohnung hat als die tatsächliche Leistung. (Ähnliche Ergebnisse hatten andere Studien in Bezug auf Migranten ergeben.)
- Umgekehrt verhält es sich bei Solo-Selbstständigen mit Berufs- oder Hochschulabschluss, die als Angestellte höhere Einkommensaussichten haben. Die Autoren geben aber zu bedenken: "Deterministische Aussagen darüber, für wen sich der Sprung in die Selbstständigkeit finanziell lohnt, lassen sich daraus jedoch nicht ableiten."
Vorurteile gegen Solo-Selbstständige nicht berechtigt - Forderungen der Wissenschaftler
- Wir zitieren: "Das weit verbreitete Vorurteil, Selbstständige verdiente generell weniger als vergleichbare abhängig Beschäftigte, ist ... unzutreffend. ... Diese Analyse verdeutlicht, dass es keinen Grund gibt, insbesondere die Solo-Selbstständigkeit grundsätzlich in ein schlechtes Licht zu stellen."
- Auch den Forderungen der Studie an die Politik können wir uns anschließen: "Die Politik sollte deshalb für eine hohe Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Erwerbsformen Sorge tragen, damit Menschen beim Schritt in die Selbstständigkeit, und gegebenenfalls auch zurück in eine abhängige Bschäftigung nicht unnötig behindert werden."
- Die Autoren fordern auch, dass die "Beratungsleistungen, beispielsweise in Bezug auf die Sozialversicherungen, verbessert werden" sollten.
Und wieder einmal: Die hohen Mindestbeiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für Selbstständige
- Wir möchten noch eine weitere Forderung an die Politik ergänzen: Dass Solo-Selbstständige im unteren Einkommensbereich auf einen vergleichsweise niedrigen Stundensatz kommen, liegt maßgeblich auch an den hohen Mindestbeiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung, die für Selbstständige gelten und sie gegenüber Angestellten systematisch benachteiligen.
- Würde der Gesetzgeber diese Ungleichbehandlung abschaffen, so würden Solo-Selbstständige mit geringem Einkommen ein deutlich höheres Nettoeinkommen pro Stunde erzielen und zu einem deutlich größeren Teil oberhalb des Mindestlohns liegen. Sie hätten damit mehr finanziellen Spielraum, um für ihr Alter vorzusorgen.
Studie: http://www.diw.de/sixcms/detail.php?id=diw_01.c.496904.de
Jetzt mitzeichnen: Mit unserer Petition setzen wir uns für faire Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge ein. Es ist nicht einzusehen, dass Selbstständige deutlich mehr zahlen als Arbeitgeber und -nehmer zusammen. Eine Gesetzesverschärfung zum 1.1.18 macht eine Reform noch dringlicher.
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