Vor einiger Zeit überraschte die OECD mit einer Studie: Die Chancen auf sozialen Aufstieg seien in Deutschland viel geringer als gedacht, hieß es. Bei genauem Hinsehen zeigt sich: Die Ökonomen haben die Rechnung ohne Selbstständige gemacht. Bezieht man sie mit ein, sieht die Sache ganz anders aus!
Wie sehr bestimmt das Elternhaus, welchen Wohlstand die Kinder erreichen? Diese Frage steckt hinter dem Begriff "soziale Mobilität". Gewünscht ist eine Gesellschaft, die eine hohe soziale Mobilität ermöglicht: Der Status der Eltern soll nicht den Status der Kinder definieren. Jede Generation soll ihre eigenen Chancen haben. Dazu gehören auch Abstiege, doch getragen ist das Prinzip von der Hoffnung, dass soziale Aufstiege häufiger sind. Bietet eine Gesellschaft soziale Mobilität, sehen Menschen Chancen, glauben an Veränderung, haben Grund zu Optimismus. Eine Gesellschaft ohne soziale Mobilität steht für Resignation, Verharren, Fatalismus. Aber auch für Ungerechtigkeit und Wut – der soziale Zusammenhalt ist in Gefahr.
Sechs Generationen für den Weg nach oben?
Deutschland gilt eigentlich als Land mit einer durchlässigen Gesellschaft und guten Aufstiegsmöglichkeiten. Deswegen war es ein Schock, als die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 2018 eine Studie vorstellte, nach der Deutschland eines der undurchlässigsten Industrieländer sei. "Der soziale Aufzug ist kaputt", schrieben die OECD-Ökonomen bei der Veröffentlichung ihrer Studienergebnisse. Etwa sechs Generationen würde es der Studie zufolge unter den 2018 festgestellten Verhältnissen dauern, bis die Nachkommen einer einkommensschwachen Familie das Durchschnittseinkommen erreichen. Im internationalen Vergleich steht Deutschland damit schlecht da, weit abgehängt von den skandinavischen Staaten, hinter dem OECD-Durchschnitt und den USA. In der OECD-Studie liegt es im Bereich von Schwellenländern wie China und Indien.
Auswertung ohne Selbstständige gemacht
Ein unerwarteter Befund, auch für Ökonomen wie Maximilian Stockhausen vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln. Er nahm die Studie genauer unter die Lupe und stellte fest: Die Auswertung bezog sich nur auf abhängig Beschäftigte. Selbstständige wurden bei der Feststellung des "kaputten sozialen Aufzugs" nicht berücksichtigt. Schlimmer noch: Die OECD hatte die Daten der Selbstständigen durchaus erfasst, nur eben nicht mit ihnen gerechnet. Stockhausen tauschte sich mit anderen Ökonomen darüber aus: "Wir waren sehr überrascht über dieses Vorgehen der OECD", sagt er.
Denn es zeigt sich: Bezieht man die Selbstständigen mit ein, verändert sich die Statistik stark. Mit den Selbstständigen steigt die Einkommensmobilität erheblich, Deutschland liegt dann, wie eigentlich erwartet, im internationalen Vergleich im mittleren Bereich. "Selbstständigkeit hat eine große Bedeutung für die soziale Mobilität", sagt Stockhausen. Ersichtlich wird dies sogar aus einer Grafik der OECD selbst: Auf Seite 198 ihres 353-Seiten-Berichts stellt ein Säulen-Diagramm die soziale Mobilität sowohl für ausschließlich abhängig Beschäftigte als auch für alle Beschäftigten insgesamt dar. Die Säule aller Beschäftigten liegt im vorderen Bereich der verglichenen Länder, die Säule für die abhängig Beschäftigten im hinteren Bereich.
Bei den abhängig Beschäftigten gehen 55 Prozent der Einkommensungleichheit unter den Vätern auf ihre Söhne über. In der Gesamtbetrachtung mit den Selbstständigen sind es nur noch 29 Prozent. Dies sollte man beachten: Die Daten wurden nur unter Männern erhoben, und auch nur in Westdeutschland. Weder Ostdeutsche noch Frauen sind erfasst. Begründung sind die starken Veränderungen, die sich bei beiden Gruppen zwischen den Generationen zeigen, zum einen durch die unterschiedliche Arbeitsmarktbeteiligung und zum anderen durch die Veränderungen der Wende. Auch die Situation junger Menschen wird nicht abgebildet: Die Studie umfasst nur die Geburtsjahrgänge bis 1983, also Männer, die bei der Untersuchung mindestens 35 Jahre alt waren und heute schon fast 40 sind.
Mehr Risiko, mehr Möglichkeiten
Die Aussagen sind also weniger allgemeingültig, als sie den Eindruck erwecken. Dennoch ist zumindest für die Gruppe der westdeutschen Männer der Befund klar: Selbstständigkeit ist ein entscheidender Faktor für soziale Mobilität.
Die Erkenntnis aus der OECD-Studie beschäftigte Maximilian Stockhausen so sehr, dass er ganz sicher gehen wollte: In einer neuen, gerade veröffentlichten Studie untersuchte er die herangezogenen Daten eingehend, indem er die Ergebnisse der OECD mit Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) abglich - und wurde bestätigt: "Für die systematisch untersuchten Vater-Sohn-Paare in Westdeutschland fällt die Einkommensmobilität um knapp ein Drittel höher aus, wenn man die Selbstständigen mit einbezieht", sagt Stockhausen. Der Effekt fiel also in der Nachuntersuchung etwas geringer aus, was Stockhausen auf methodische Unterschiede zwischen den beiden Untersuchungen zurückführt. Dass er deutlich vorhanden ist, bestätigte die Untersuchung.
Zusätzlich stellte er fest: Besonders groß sei der Unterschied, wenn Väter und Söhne unterschiedlichen Erwerbsformen nachgingen, es also zwischen den Generationen zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbstständigkeit wechselt. "Wenn man aus den bestehenden Verhältnissen ausbricht, finden die größten Veränderungen statt", erklärt Stockhausen.
Die Welt der Selbstständigen ist eine bewegliche, das weiß, wer sich einmal hineingewagt hat. "Die Bandbreite dessen, was möglich ist, ist in der Selbstständigkeit sehr viel größer", sagt Stockhausen. Mehr Risiko, mehr Möglichkeiten. In den vergangenen Jahren, zumindest denen vor Corona, bedeutete dies aber vor allem eine größere Chance auf ein höheres Einkommen: "Die durchschnittliche Einkommensentwicklung der Selbstständigen ist in den letzten Jahren der von abhängig Beschäftigten enteilt", sagt Stockhausen.
Selbstständigkeit öffnet Wege nach oben
Was Selbstständige aber auch wissen: Der Staat macht ihnen ihren Weg oft schwer. Oder, in den Worten von Maximilian Stockhausen: "Deutschland kann für Selbstständige bürokratisch sehr fordernd sein." Dabei zeigen die Daten: Ohne Selbstständige wäre es um die soziale Mobilität in Deutschland schlecht bestellt. Und soziale Mobilität ist wichtig für den sozialen Frieden.
Die Politik ist also gut beraten, günstige Bedingungen für Selbstständige zu schaffen und Menschen, die eine selbstständige Beschäftigung in Betracht ziehen, zu ermutigen. Gerade Parteien, die für sich in Anspruch nehmen, für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen, sollten die Anliegen von Solo-Selbstständigen im Blick haben. Denn besonders für Menschen, die nicht mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund geboren wurden, öffnet die Selbstständigkeit Wege nach oben.
Du möchtest Kommentare bearbeiten, voten und über Antworten benachrichtigt werden?
Jetzt kostenlos Community-Mitglied werden