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Bericht zum Kamingespräch mit Andrea Nahles Scheinselbstständigkeit war zentrales Thema

Von Andreas Lutz

Andreas Lutz bei der Ankunft im Ministerium

Wie angekündigt waren wir gestern Abend zu Gast bei Bundesarbeitsministerin Nahles. Wir - das waren neben mir elf weitere Selbstständige(nvertreter), die das Ministerium ausgewählt hatte (zu ihren Statements). Im Gepäck hatte ich von Euch jede Menge guter Argumente zu den Themen Rentenversicherungspflicht, Krankenversicherungsbeiträge und Scheinselbstständigkeit.

Wir wurden bereits am Eingang von freundlichen Mitarbeitern des Ministerium empfangen, die Veranstaltung fand in einem Raum mit Dachschrägen im obersten Stockwerk des Ministeriums statt. Das Kaminfeuer prasselte auf einem großen Monitor. Auch ohne Feuer war es warm genug. Tagsüber hatte es gestern in Berlin an die 30 Grad, eine schweißtreibende Angelegenheit.

Andrea Nahles begrüßt Rolf Höfert (Deutscher Pflegerat)

Die Ministerin erschien gut gelaunt, pünktlich um 18 Uhr – zuvor hatte sie im Bundestag ihr Budget erläutern müssen, immerhin das größte Einzelbudget des Bundeshaushalts. Sie nahm sich gut 90 Minuten Zeit, mit uns zu reden. Danach standen die drei anwesenden Abteilungsleiter des Ministeriums und weitere Mitarbeiter zu informellen Gesprächen zur Verfügung – eine hochrangig besetzte Runde.

Andrea Nahles aus der Nähe betrachtet: Die Ministerin hat Humor, bringt die Runde mit ihren Bemerkungen immer wieder zum Lachen, kabbelt sich scherzhaft mit Benjamin Mikfeld, dem Chef der Abteilung 1, der laut Nahles für „das Visionäre“ zuständig ist. Es herrscht also eine offene Gesprächsatmosphäre, die viele Teilnehmer positiv überrascht.

Eröffnungsstatement: Um diese Themen geht es Nahles

Die Ministerin benennt in ihrem Eröffnungsstatement die Themen, die sie mit uns diskutieren möchte: Alterssicherung, Krankenversicherung, faire Vergütung, überraschenderweise auch das Thema betriebswirtschaftliche Beratung von Gründern.

Ministerin Andrea Nahles mit Abteilungsleiter Benjamin Mikfeld, der die Veranstaltung moderiert

Bei der Alterssicherung gebe es Indikatoren, die auf eine mangelhafte Vorsorge eines Teils der Selbstständigen schließen lassen, das könne sie belegen. (Wir werden schriftlich nachhaken welche das sind!) Deswegen brauche es entweder eine Altersvorsorge-, Rentenversicherungspflicht oder Vergleichbares. Was am besten sei, prüfe man noch. Das alles fließe in ein Renten-Gesamtkonzept ein. (Dieses möchte sie bekanntermaßen bereits im November präsentieren.)

Zum Thema „Faire Vergütung“ habe es Überlegungen zu einem Mindesthonorar für Selbstständige gegeben, was aber an EU-Hürden scheitere. Sie sympathisiert hier wohl mit einer Art Tarifvertrag, der allgemeinverbindlich erklärt werden könnte. Das setze die Vertretung der Selbstständigen durch eine Gewerkschaft voraus...

Die Aufgabe „betriebswirtschaftliche Beratung für Gründer und Selbstständige“ zu fördern, fällt an sich ins Ressort des Wirtschaftsministers, wird aber offenbar auch im BMAS diskutiert. Nahles berichtet in diesem Zusammenhang von einer Verwandten, die sich selbstständig machen möchte und seit Monaten durch den Bürokratiedschungel kämpfen müsse...

Die Themenliste sei aber nicht abgeschlossen, schließlich geht es neben dem Austausch untereinander im kleinen Kreis auch um die Vorbereitung des Themenlabors am 18. Oktober, einer Veranstaltung an der rund 150 Selbstständige und ihre Organisationen teilnehmen, die die genannten Punkte in größerer Runde diskutieren sollen.

Dann dreht sich erst mal alles um das Thema Scheinselbstständigkeit

Joachim Groth von der IT-Projektgenossenschaft eG spricht, neben ihm Mitarbeiterinnen des Ministeriums

Ich bin der erste, der sich anschließend zu Wort meldet und berichtet, dass für viele Selbstständige das Thema Scheinselbstständigkeit momentan das drängendste ist, weil sie massenhaft Aufträge verlieren und in Zeitarbeit oder befristete Beschäftigung gedrängt werden. Das gefährdet die bestehende Altersvorsorge, unter Umständen können Versicherungsbeiträge und Immobilienkredite nicht mehr bedient werden.

Häufig sind über 50-Jährige betroffen, die sich in einer für den Aufbau der Altersvorsorge besonders kritischen Phase befinden und kaum Aussicht auf eine Festanstellung haben – die sie im übrigen auch gar nicht wollen. Auf meinen Redebeitrag hin bestätigen zahlreiche andere Teilnehmer in ihren Statements, dass es sich um ein akutes Problem handle und erklären das Ganze anhand von Beispielen aus ihrer jeweiligen Branche.

Die Ministerin reagiert zunächst ähnlich wie das Staatssekretärin Yasmin Fahimi bei der Übergabe unserer Petition tat - nach dem Motto: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Der laut ihr hunderttausendfache Missbrauch von Schein-Werkverträgen müsse gestoppt werden. Die Auftraggeber versuchten sich nun durch Gestaltungen dem zu entziehen. Einfache Kriterien seien ja geplant gewesen, der BDA (Bund Deutscher Arbeitgeber) habe ihr diese wieder aus dem Gesetz gestrichen. Was für Kriterien wir denn vorschlagen würden?

Panoramaaufnahme

Gelegenheit zur Vertiefung: Ja, es gibt wirklich ein Problem

Andreas Lutz (VGSD), Victoria Ringleb (AGD), Marcus Pohl (ISDV), Veronika Mirschel (ver.di)

Da ich direkt angesprochen wurde, bekomme ich noch einmal Gelegenheit zu einer Replik und beschreibe, wie die Ablehnungsquote bei Statusfeststellungsverfahren seit 2006/7 von 19 auf über 45 Prozent angestiegen ist – bei unveränderter Rechtslage. Und auch dass das früher einseitige Statusfeststellungs-Formular auf inzwischen sieben Seiten angewachsen ist. Wie die Diskussion über das Werkvertragsgesetz Auftraggeber verunsichert und zu teils drastischen Reaktionen führt.

Ich erinnere auch an die Forderung des VGSD und vieler anderer Verbände nach einer einfach verständlichen Regelung, die Rechtssicherheit schafft. Zum Beispiel durch Einführung von Positivkriterien, die sicherstellen, dass wer fair bezahlt wird und sich um seine Altersvorsorge kümmert, vor einer Verfolgung sicher ist.

Auch im weiteren Gesprächsverlauf spielt das Thema bei zahlreichen Wortmeldungen eine Rolle, die Teilnehmer kommen immer wieder darauf zurück. Ministerin und Abteilungsleiter geben sich an einigen Stellen überrascht, zum Beispiel bezüglich der Dauer von Statusfeststellungsverfahren in an sich eindeutigen Fällen.

Am Ende wird Ministerin Nahles einräumen, dass es hier offensichtlich ein Problem gebe, sie werde sich noch einmal mit dem Thema befassen. Das ist sicherlich der wichtigste Erfolg an diesem Abend. Ich weiß nicht, was bei dieser Befassung heraus kommt, aber deutlicher hätten wir die Probleme vor diesem einflussreichen Kreis von Teilnehmern sicher nicht beschreiben können. Niemand kann nach diesem Gespäch sagen, man habe von den Problemen nichts gewusst. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir damit zum Beispiel eine Klarstellung in der Präambel des Gesetzesentwurfs oder eine klarstellende Weisung an die DRV erreichen könnten.

Klare Absage an KSK-Ausweitung und bedingungsloses Grundeinkommen

Hier knistert das Kaminfeuer, rechts und links von Andrea Nahles sitzen Abteilungsleiter und Mitarbeiter des BMAS

Sehr klare Antworten gab die Ministerin zu Vorschlägen einiger Teilnehmer, die in Richtung Ausweitung der Künstlersozialkasse (KSK) oder bedingungsloses Grundeinkommen gingen. Die KSK habe sie in ihrer Amtszeit schon zweimal retten, die DRV mit Engelszungen zu strengeren Prüfungen bezüglich der KSA (Künstlersozialabgabe) überreden müssen.

Wenn die Finanzierung schon jetzt so schwierig sei, dann sei das Modell wohl kaum auf alle Selbstständigen übertragbar. Für ein Grundeinkommen sei sie offen, aber auf keinen Fall in Verbindung mit dem Wörtchen "bedingungslos".

Auch den wiederkehrenden Vorschlag einer Wertschöpfungsabgabe (höhere Gewinnsteuer mit der Begründung, dass aufgrund der Automatisierung die Gewinne stark steigen würden) hält sie für nicht umsetzbar und vertieft das Thema nicht.

Öffentliche Hand als Auftraggeber: Geht nicht mit gutem Beispiel voran

Das Gespräch kommt auch auf die öffentliche Hand als Auftraggeber. Die Erfahrung: Staatliche Stellen zahlen, wo sie Selbstständige direkt beschäftigen, oft sehr schlecht. Und bei Vergabeentscheidungen wird nicht auf die Bezahlung der Mitarbeiter geachtet, sondern nur auf den Preis.

Die Unternehmen, die am schlechtesten bezahlten, gewinnen die Aufträge und so drückt der Staat mittelbar die Honorare (und damit auch auf die Qualität der Leistungen für die Bürger!). Nahles gibt sich hier offen für Verbesserungen (wofür sie zum Beispiel bei der Bundesagentur für Arbeit viel Gelegenheit hätte). Für eine Vertiefung des Themas bleibt allerdings keine Zeit.

Thema Rentenpflicht

Anna Volquardsen von "Dear Work" spricht, rechts von ihr die Künstlerin Julia Primavera und der Softwareentwickler und Mediengestalter Henning Tillmann

Auch zum Thema Rentenpflicht gibt es eine lebendige Diskussion. Einige Teilnehmer sprechen sich klar gegen eine Rentenversicherungspflicht aus, andere können sie sich vorstellen – aber nur wenn alle Erwerbstätigen einbezogen werden. Die Vielfalt der Meinungen resultiert auch aus der Vielfalt der Teilnehmer, unter denen u.a. eine Vertreterin von ver.di und ein früherer SPD-Mitarbeiter sind.

Die jüngeren unter den Teilnehmern berichten, dass ihre Generation sich angesichts der großen Umwälzungen gar nicht vorstellen kann, dass sie später einen nennenswerten Betrag von der Rentenversicherung erhalten und sich darauf einstellen, deutlich über das 67. Lebensjahr hinaus arbeiten zu müssen. Das sei aber auch nicht so schlimm, weil ihnen die Arbeit ja Spaß mache und sich ständig wandle und weiter entwickle.

Nur mit Zwang, Strafandrohung und Zollkontrollen wird es nicht funktionieren

Ein Konsens besteht (gefühlt) darüber, dass eine Rentenversicherung, die die Mitgliedschaft nur per Zwang, mit Androhung von Strafen und Zollkontrollen durchsetzen kann, auf Dauer die gesellschaftliche Unterstützung verliert, weil die Betroffenen Wege suchen werden, sich dem zu entziehen.

Ministerin Nahles beantwortet eine Frage

Spürbar ist die Bereitschaft unter den Teilnehmern, echte Reformen mitzutragen und Solidarität gegenüber der Rentnergeneration zu üben. Viele Selbstständige – wird berichtet - wären bereit auch freiwillig in die Rentenversicherung einzuzahlen oder durch Zuzahlungen Rentenansprüche aufzustocken. Wenn dies aber automatisch zu einer unfair gestalteten Prüfung auf Scheinselbstständigkeit und Rentenversicherungspflicht führe, könne man das schon allein aus Verantwortung seinen Auftraggebern gegenüber nicht tun.

Ich selbst kann in einem Redebeitrag gegen Ende der Veranstaltung noch einmal auf die für unsere Mitglieder wichtigsten Anliegen zum Thema Rentenpflicht eingehen: Ich stelle fest, dass die große Mehrheit von uns gut vorsorgt und erkläre, wie sich durch die geplanten Änderungen ihre Altersvorsorge verschlechtern würde. Ich erinnere Ministerin Nahles auch an die Ankündigung, u.a. auch die berufsständischen Versorgungswerke als Alternative zu einer Rentenversicherungspflicht untersuchen zu lassen (Nahles sagt, dass dies geschehen würde).

Die Überlegungen der SPD zu einer Senkung der Mindestbeiträge zur Krankenversicherung begrüße ich, weise aber auf die Problematik der vielen privat Krankenversicherten hin, die davon nicht profitieren werden. Außerdem fordere ich einen umfassenden Bestandsschutz für all diejenigen, die durch Versicherungsverträge oder Immobilienfinanzierungen langfristige Altersvorsorge-Verpflichtungen eingegangen sind.

Rentenversicherungspflicht nur mit Beamten

Eine Rentenversicherungspflicht sei für uns nur vorstellbar im Rahmen einer umfassenden und langfristigen Reform, bei der auch Beamte, Abgeordnete, Richter und Soldaten einbezogen werden (dafür erwarten wir dann allerdings einen Fahrplan). Bei einer solchen Reform müssen dann aber alle Gruppen und Generationen fair belastet werden und es darf keine Tabus (etwa in Bezug auf die langfristige Entwicklung des Renteneintrittsalters) geben.

Eine Beitragsbemessung auf Basis des letzten Steuerbescheids sei zu unflexibel, die Gefahr einer finanziellen Überforderung dagegen erheblich, weil Selbstständige die Beiträge auf eine höhere Bemessungsgrundlage (Gewinn) zahlen als die Arbeitnehmer (Bruttogehalt nach Abzug des Arbeitgeber-Anteils).

Dass die Gefahr einer Überforderung auch für den Mittelstand gilt, mache ich an einem Rechenbeispiel deutlich (das hier in der schriftlichen Version etwas präzisieren möchte):

Mit  50.000 Euro Jahresgewinn zahlt man als Alleinstehender in den alten Bundesländern schon fast den Spitzensteuersatz, genauer gesagt 40,4% Einkommensteuer, 2,2% Solidaritätszuschlag und 3,6% Kirchensteuer, in Summe beträgt die Grenzsteuerbelastung 46,2%. Zugleich liegt man aber noch unter den Bemessungsgrenzen und muss als Selbstständiger Arbeitgeber- und -nehmeranteil tragen (14,6 % Kranken-, 2,6% Pflege- und 18,7% Rentenversicherung), in Summe 35,9% - hinzu kommen noch Arbeitslosenversicherung und Zuschläge zur Krankenversicherung. Nur ein Teil der Vorsorgeaufwendungen ist steuerlich absetzbar, so dass die Belastung noch immer erdrückend hoch aus: 54,2% des Einkommens würden abgezogen, die Grenzbelastung läge sogar bei 62,2%. Das heißt: Von 4.167 Euro pro Monat bleiben unter dem Strich 1.907 Euro. Und wenn man einen zusätzlichen Auftrag  annimmt, mit dem man einen Reingewinn von 1.000 Euro erzielt, bleiben einen davon also gerade einmal 378 Euro.

Fazit

Im Gespräch: Andrea Nahles mit Teilnehmern

Das Kamingespräch war schon allein deshalb ein Erfolg, weil Andrea Nahles sich erstmals im Rahmen des Prozesses Arbeiten 4.0 mit Selbstständigen getroffen und offenbar akzeptiert hat, dass es nicht ausreicht, nur mit Gewerkschaften und Arbeitgebern zu sprechen.

Es herrschte eine offene Gesprächsatmosphäre, man hat sich (teils sogar schon mehrfach) gesehen, die Berührungsängste nehmen ab und so erhoffe ich mir einen künftig intensiveren Austausch mit den Mitarbeitern des Ministeriums.

Ich freue mich, dass es uns gelungen ist, die Ministerin zum Thema Scheinselbstständigkeit noch einmal mit allem Nachdruck zu alarmieren. Sie kann nach diesem Gespräch auf keinen Fall sagen, sie habe von den Problemen nicht gewusst. Ich hoffe, dass ihre nochmalige Befassung mit dem Thema zu neuen Erkenntnissen und Klarstellungen führt.

Zum Thema Rentenpflicht hätte ich mir im Idealfall gemeinsame Positionen und abgestimmte Forderungen der Teilnehmer an Ministerin Nahles gewünscht, das hätte aber eine intensivere vorherige Abstimmung erfordert. Andererseits haben wir Selbstständige(nvertreter) uns bei dieser Gelegenheit kennen gelernt, große Schnittmengen festgestellt und haben die Chance, uns in Zukunft intensiver zu vernetzen.

Deshalb habe ich die anderen Teilnehmer auch gleich eingeladen, hier auf der VGSD-Website ihre Eindrücke zusammenzufassen und kurze Statements zu der Veranstaltung abzugeben. Auf diese Weise erfahrt ihr noch mehr über die anderen Teilnehmer, ihre Positionen und wie die Ergebnisse des Abends wahrgenommen wurden.

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