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Kein Aufstocken mit ALG 2 mehr für Selbstständige?

Wenn die Einnahmen aus selbstständiger Tätigkeit nicht ausreichen, um davon Miete, sonstige Lebenshaltungskosten und Sozialversicherungsbeiträge zu bezahlen, besteht bislang die Möglichkeit, ergänzend Arbeitslosengeld 2 zu beantragen. Rund 125.000 Gründer und Selbstständige machen von dieser Möglichkeit Gebrauch. Die Hilfe ermöglicht es, sich zumindest einen Teil des Lebensunterhalts selbst zu verdienen und diesen geringfügig aufzustocken oder den Betrieb während einer Krise fortzuführen.

Von ALG-2-Experten wird nun im Internet spekuliert, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wolle diese Möglichkeit abschaffen. Dafür sprechen Äußerungen der Bundesagentur für Arbeit sowie von Ministerin von der Leyen sowie eine vom BMAS in Auftrag gegebene Studie. Das Ministerium hat entsprechende Änderungspläne dementiert. Wir haben untersucht was "dran" ist.

Drei Indizien für eine Regelung contra Aufstocker

  1. Auslöser der Diskussion war eine Bemerkung von Ursula von der Leyen in der Videobotschaft, die sie als Reaktion auf Tim Wessels' erfolgreiche Petiton gegen die Zwangsrente aufgezeichnet hat. Sie sagt darin:

    "Selbstständigkeit und der Rest ist Hartz IV - das wird auf Dauer nicht gehen".

  2. Die Äußerung erinnerte daran, dass Heinrich Alt, zuständiges Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, bereits vor einem guten Jahr, im Juni 2011 ins selbe Horn gestoßen hatte. Überraschend für Experten und auch Mitarbeiter der Arbeitsagenturen hatte Alt selbstständigen Aufstockern Sozialbetrug unterstellt - wobei er selbst einräumte, dass "wir keinerlei Empirie darüber haben, ob und wie oft das vorkommt". (Bericht dazu)

    Dass er kein einziges Beispiel eines solchen Mißbrauchs benennen konnte, hinderte die Medien nicht, auf den Zug aufzuspringen und Bilder von Selbstständigen mit Porsche und Pool zu zeigen, die angeblich Hartz IV beantragen. Ministerin von der Leyen forderte postwendend öffentlich von der Bundesagentur für Arbeit, sie möge solchen Mißbrauch abstellen.

    Gegenüber der Süddeutschen Zeitung forderte Alt, der der SPD angehört, damals: "Irgendwann muss man schwarze Zahlen schreiben oder - so weh es tut - die Selbstständigkeit aufgeben. Der Steuerzahler kann nicht auf Dauer eine nicht tragfähige Geschäftsidee mitfinanzieren."

  3. Im November 2011 erschien dann ein "Working Paper" des staatlich finanzierten Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) unter dem Titel "Selbstständige in der Grundsicherung", das offenbar erheblichen Einfluß auf das Denken der Politiker entfaltet hat.

    Ohne konkrete Beispiele und ohne dass eine empirische Untersuchung durchgeführt worden wäre, so die Kritiker, kommt das Paper zu dem Schluss: "Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist die Gewährung von Grundsicherung für Selbstständige kritisch" zu sehen. Die Grundsicherung für Selbstständige "ist als schädlich für den Strukturwandel und die gesamtwirtschaftliche Entwicklung anzusehen." Und weiter: Wegen "des Substitutionseffekts und der möglichen Schaffung von Marktaustrittsbarrieren (sei) eine dauerhafte bzw. langfristige Unterstützung von Selbstständigen in der Grundsicherung volkswirtschaftlich nicht wünschenswert."

    Damit ist nichts anderes gesagt, als dass volkwirtschaftlich gesehen jede Art von Unterstützung und Subvention den Marktmechanismus verzerren kann. Auf die Untersuchung der volkswirtschaftlichen Konsequenzen für den Fall eines Auftockungs-Verbots, wenn selbstständige Aufstocker massenweise ihre Betriebe schließen und rein von der Stütze leben, verzichtete das Arbeitspapier.

Alarmiert durch eine ganze Serie von Selbstständigen-feindlichen Gesetzen der aktuellen Regierung stellte sich damit die Frage: Will Ursula von der Leyen das Aufstocken abschaffen?

Warum das Aufstockens nicht abgeschafft werden sollte: Sieben Argumente

  1. Mit jedem Euro, den ein Arbeitslosengeld-1-Empfänger dazu verdient, spart der Staat 80 bis 90 Cent an Ausgaben. Eine Abschaffung dieser Regelung wäre finanzpolitisch ein Eigentor. Andererseits: Der aktuellen Regierung wird zurzeit alles zugetraut.
  2. Auch für ALG-2-Empfänger gilt das Grundgesetz und somit der Anspruch auf Grundsicherung sowie die Freiheit der Berufsausübung. Man kann sie also nicht zwingen, rein von Hartz IV zu leben und keiner selbstständigen Tätigkeit nachzugehen. Dies räumt Ministeriumssprecher Christian Westhoff auch ausdrücklich ein, wenn er sagt,  man plane "keinerlei derartige Änderungen". Und weiter: "Auch für Selbstständige (besteht) bei Vorliegen der Voraussetzungen ein verfassungsrechtlich garantierter Anspruch auf Deckung des Existenzminimums". Der Sprecher schränkt ein, dass Selbstständige "wie andere Leistungsberechtigte auch (…) alle Möglichkeiten zur Beendigung oder zur Verringerung der Hilfebedürftigkeit ausschöpfen" müssen.
  3. Wenn man 125.000 Selbstständigen das Aufstocken verbietet, dann müsste man das konsequenterweise auch für die 1,2 Millionen Arbeitnehmer tun, die von ihrer Arbeit nicht leben können und ebenfalls ihr Einkommen aufstocken. Durch die Subvention ihrer Gehälter können die Unternehmen, für die sie tätig sind, ihre Produkte zu einem niedrigen Preis anbieten. Das verzerrt den Wettbewerb doch ebenso sehr als würden die Leistungen direkt von einem Selbstständigen erbracht. Und: Wenn Selbstständigen das Aufstocken untersagt wird, werden sie zu angestellten Aufstockern. Oder sie sind nicht mehr erwerbstätig und leben nur von Hartz IV. Was ist damit gewonnen?
  4. Der Journalist (und Volkswirt) Dietrich von Hase treibt die Argumentation noch weiter: Konsequenterweise müssten nach dieser Argumentation auch "nebenberufliche Tätigkeiten (beispielsweise von Beamten aus dem Arbeitsministerium, angestellten Mitarbeitern von Forschungsinstituten, nebenberuflich tätigen Renten- und Pensionsbeziehern) ebenfalls als volkswirtschaftlich schädlich" beurteilt werden, denn "auch diese Gruppen erhalten durch laufende Bezüge, Gehälter, Pensionen oder Renten bereits Einkommen zum Lebensunterhalt. Sie sind daher ebenfalls in der Lage preisdrückend auf dem Markt aufzutreten und bremsen damit den 'Strukturwandel'." Gleiches gilt, so von der Hase, für Behindertenwerkstätten, ehrenamtlich in Vereinen Engagierten sowie Studenten, die Bafög beziehen.
  5. Vorsicht, Ironie: Natürlich gibt es zurzeit viele offene Stellen. Theoretisch könnten alle offenen Stellen sofort besetzt werden, wenn die Aufstocker sich bequemen würden, endlich eine solche Stelle anzunehmen - und die Arbeitgeber nicht so wählerisch in Hinblick auf die geforderten Qualifikationen wären. Herr Alt, bitte weisen Sie Ihre Fallbetreuer an, die arbeitslosen ALG-2-Empfänger zu vermitteln! Von Seiten der Arbeitslosen ist das kein Problem: Sie wären verpflichtet, die Arbeitsplätze anzunehmen. Ansonsten könnte man ihnen das Arbeitslosengeld kürzen oder ganz streichen. Wieso wird das nicht getan?
  6. Richtig, den ALG-2-Empfängern fehlt es an bestimmten Qualifikationen, sie haben eine schlechtere Ausbildung oder stehen aufgrund der familiären Situation (z.B. alleinerziehend ohne Kinderbetreuung) dem Arbeitsmarkt nicht so zur Verfügung wie von den Arbeitgebern gewünscht. Wenn das so ist, kann man nun entweder in die Qualifizierung investieren oder in einen Kita-Platz - oder man macht es wie jetzt und subventioniert die Arbeitskraft, so dass sie zum Marktpreis zur Verfügung steht und die Person trotzdem davon leben kann. Auch so lässt sich volkswirtschaftlich korrekt argumentieren.
  7. Die selbstständige Betätigung im Rahmen des ALG-2-Bezugs ist kein Problem, sondern ein Teil der Lösung: Durch die Selbstständigkeit erwerben die ALG-2-Bezieher neue Qualifikationen, bauen Kontakte auf und gewinnen an Selbstbewusstsein. Das bringt mehr als irgendwelche, von der Arbeitsagentur bezahlte praxisferne Umschulungen oder das zehnte Bewerbungstraining.

Fazit

Wir freuen uns über das klare Dementi des Ministeriums und hoffen, dass es Bestand hat. Dann aber bitte die Aufstocker-Schelte ohne Fakten-Grundlage bleiben lassen. Andererseits gilt: "Kein Rauch ohne Feuer." Wir sollten hellhörig bleiben und genau beobachten, welche weiteren Äußerungen es zu dieser Debatte gibt.

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