Überforderungs-Beseitigungs-Gesetz unter der Lupe
"Krankenkassen erlassen Beitragsschulden bei Meldung bis Jahresende" titelten Zeitungen nach Verabschiedung des "Gesetzes zur Beseitiguung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung". Eine gute Nachricht, denn fast 750.000 Menschen in Deutschland haben keine Krankenversicherung oder sind mit ihren Beiträgen in Rückstand, darunter viele Selbstständige.
Nicht zu früh freuen
Von dem Altschuldenerlass profitiert allerdings nur jene 130.000, die bereits seit bzw. vor Einführung der Versicherungspflicht in 2007 (GKV) bzw. 2009 (PKV) nicht versichert waren. Obwohl sie keine Leistungen in Anspruch genommen haben, sind bei ihnen aufgrund der Versicherungspflicht hohe Beitragsschulden aufgelaufen. Selbst wenn sie inzwischen wieder in der Lage wäre, die Beiträge zu zahlen - durch die Altschulden in oft fünfstelliger Höhe ist ihnen die Rückkehr in das Versicherungsverhältnis bisher fast unmöglich gewesen.
Davon zu unterscheiden sind die rund 600.000 Betroffenen, die bei der Versicherung gemeldet sind, aber ihre Beiträge nicht (ganz) zahlen können. Hier waren es vor allem die exzessiven Strafzinsen in Höhe von 5% pro Monat - 60% pro Jahr, die sie in die Schuldenfalle brachten. Ihnen werden die Beiträge nicht erlassen, sondern "nur" die Strafzinsen künftig und auch rückwirkend auf 1% pro Monat ermäßigt.
Wer zuletzt privat krankenversichert war, für den gelten noch einmal besondere Regeln. Deshalb haben wir im Folgenden eine Fallunterscheidung angestellt und versucht, für jede Variante herauszufinden, was bisher und künftig bzw. bei Meldung bis Jahresende gilt. Bei einer so komplizierten Materie können wir nicht garantieren, dass alles bis ins Detail korrekt ist, deshalb sind alle Leser eingeladen, abweichende Informationen über die Kommentarfunktion am unteren Ende der Seite zu ergänzen.
Jetzt mitzeichnen: Mit unserer Petition setzen wir uns für faire Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge ein. Es ist nicht einzusehen, dass Selbstständige deutlich mehr zahlen als Arbeitgeber und -nehmer zusammen. Eine Gesetzesverschärfung zum 1.1.18 macht eine Reform noch dringlicher.
Das Gesetz löst nur die Symptome, nicht das zugrundeliegende Problem
Dass Selbstständige mit ihren Beiträgen häufig in Verzug kommen liegt nicht daran, dass sie die Beiträge nicht zahlen wollen, sondern dass sie sich die für sie geltenden hohen einkommensunabhängigen Mindestbeiträge oft nicht leisten können. Daran ändert das Gesetz leider nichts.
Unabhängig von ihrem Einkommen müssen Selbstständige auch künftig 350 Euro Mindestbeitrag pro Monat für die Kranken- und Pflegeversicherung (im Bereich der GKV) zahlen. Bei Angestellten richten sich die Beiträge dagegen durchgängig nach dem tatsächlichen Verdienst - deshalb zahlen Angestellte mit niedrigem Einkommen nur einen Bruchteil im Vergleich zu Selbstständigen. Dabei ist auch zu bedenken, dass Selbstständige sowohl den Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmeranteil aufbringen müssen, ihr Beitrag also ohnehin doppelt so hoch ist wie der von Angestellten.
Anders als bei Angestellten werden bei Selbstständigen in der GKV zudem alle Einnahmen (und nicht nur das Gehalt/der Lohn) zur Beitragsbemessung herangezogen. Das ist eine weitere Benachteiligung gegenüber Angestellten.
Fallunterscheidung: Wer bekommt Beitragsschulden erlassen, wer nicht?
1. Nicht krankenversichert seit mindestens Einführung der Krankenversicherungspflicht, keine Leistungen in Anspruch genommen, ca. 130.000 Betroffene
- a) Zuletzt in GKV versichert: Seit 1.4.2007 besteht Versicherungspflicht.
- Bisher: Schulden Beiträge für gesamten Zeitraum, Mindestbeitrag 350 Euro/Monat für Kranken- und Pflegeversicherung, wenn die Versicherung (wie in solchen Fällen) nicht an die Beiträge erinnern kann, greift die Verjährungfrist von vier Jahren, es sind also "nur" die Beiträge der letzten vier Jahre plus des aktuellen Jahres zu zahlen, zudem sind 5% Säumniszuschläge pro Monat (60% pro Jahr) zu zahlen.
- Bei Meldung bis 31.12.2013: Erlass dieser Beitragsschulden, künftig nur noch 1% Säumniszuschlag/Monat
- Bei Meldung nach dem 1.1.2014: Versicherungen sollen Beiträge "angemessen ermäßigen"
b) Zuletzt in PKV versichert: Seit 1.1.2009 besteht Versicherungspflicht.
- Bisher vor Wiedereintritt Strafzahlung fällig : Januar 2009 frei, Februar bis Juni 2009 fünf Beiträge, danach 1/6 Monatsbeitrag pro Monat, also ein Beitrag pro Halbjahr. Bei Eintritt zum 1. Juli 2013 wären das also insgesamt 13 Monatsbeiträge
- Bei Meldung bis 31.12.2013: Verzicht auf diese Strafzahlungen
2. Krankenversichert, aber in Verzug mit Beitragszahlung, ca. 600.000 Betroffene, davon 3/4 in in GKV
- a) In GKV versichert
- Bisher: Beiträgsrückstände werden mit 5% Säumniszuschlag pro Monat verzinst
- Künftig: Beitragsrückstände bleiben bestehen, Säumniszuschläge werden rückwirkend und künftig mit "nur" 1%/Monat berechnet
b) In PKV versichert: Beiträge müsen gemahnt werden, wenn der Versicherte mit Prämienanteilen von zwei Monaten im Rückstand ist. Schuldet er zwei Wochen nach Zugang der Mahnung immer noch mehr als eine Monatsprämie ...
- Bisher: Leistungen ruhen dann drei Tage nach entsprechender Benachrichtigung ("2. Mahnung") durch die Versicherung, nur Notfallversorgung wird übernommen. Beiträge laufen weiter auf mit Säumniszuschlägen von 1%/Monat. Erst wenn aufgelaufene Beiträge voll bezahlt sind, wieder Anspruch auf Leistungen. Wenn innerhalb von 12 Monaten kein Ausgleich: Wechsel in Basistarif gesetzlich vorgesehen. Aufgrund von dessen Kalkulation aber oft teurer als normaler Tarif, deshalb zum Teil de facto kein Wechsel.
- Künftig: Automatisch Wechsel in Notlagentarif (nur Notfallversorgung, normaler Vertrag ruht). Je nach Anbieter ist dafür mit einer Prämie von 100 bis 150 Euro/Monat zu rechnen. Wenn sich Versicherungsnehmer normale Beiträge wieder leisten kann: Rückkehr in bisherigen Tarif. Säumige Beitragszahler gelten - soweit sie nicht widersprechen - auch rückwirkend ab dem Zeitpunkt, zum dem ihr Vertrag ruhend gestellt wurde, als im Notlagentarif versichert, was evtl. Beitragsschulden aus solchen Zeiten reduziert.
Noch sind viele Details zu klären
Bis 15.9.13 muss der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen die konkreten Bedingungen für den Bereich der GKV regeln, die dann vom Bundesgesundheitsminister zu genehmigen sind. Bis dahin dürften die gesetzlichen Krankenversicherungen Betroffene auf diesen Zeitpunkt vertrösten. Die privaten Krankenversicherungen müssen die konkrete Umsetzung des Gesetzes in ihre Versicherungsbedingungen mit ihrer Aufsichtsbehörde, der Bafin, klären.
Ich möchte ausdrücklich den Pressereferenten der folgenden Versicherungen und Verbände für ihre Unterstützung bei der Recherche danken: Techniker Krankenversicherung, GKV-Spiteznverband und Verband der Privaten Krankenversicherungen.
Was wir als Verband tun
Wir setzen uns im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung vor allem gegen die hohen Mindestbeiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung für Selbstständige ein, denn sie stellen eine eklatante Schlechterbehandlung von Selbstständigen gegenüber Angestellten dar. Nicht nur können sie zu Beitragsschulden und dem Verlust des Versicherungsschutzes führen, sie hindern viele Gründungswillige an der Aufnahme einer Selbstständigkeit, z.B. in Teilzeit, neben der Familienarbeit.
Bei der Abstimmung über die wichtigsten Anliegen unserer Mitglieder wurden die hohen Mindestbeiträge zur Krankenversicherung auf Platz zwei der wichtigsten Verbandsziele gewählt.
Ein weiteres wichtiges Anliegen ist eine Begrenzung des Beitragsanstiegs bei den privaten Krankenversicherungen.
Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit und werden Sie Mitglied!
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