Kein Grund zu feiern: Seit 25 Jahren versucht der Staat vor Scheinselbstständigkeit zu schützen – schafft aber nur immer größere Unsicherheit. Eine Geschichte des Unheils von Walter Riester bis Hubertus Heil.
Walter Riester (SPD) war 1999 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, wie es damals noch hieß. Bis heute ist sein Name mit der „Riester-Rente“ verknüpft. Sie entstand 2002 aus der richtigen Überlegung, dass die gesetzliche Rente nicht ausreichen würde und zusätzliche private Vorsorge nötig sei. Angesichts der hohen Kosten und – trotz staatlicher Förderung – niedrigen Renditen würde er aus heutiger Sicht diesem Produkt wohl nicht mehr seinen Namen geben wollen. Aber immerhin hat sie 22 Jahre überlebt und soll dieser Tage – endlich – durch die kostengünstigeren und damit deutlich rentableren "Altersvorsorge-Depots" ersetzt werden.
Ein anderes seiner Gesetze stieß auf sehr viel mehr Widerstand und wurde nur vier Jahre nach seiner Einführung 1999 wieder abgeschafft. Mit ihm begann vor 25 Jahren die Diskussion um die „Scheinselbstständigkeit“, die in der Folge zu immer abstruseren Gesetzen und immer größerer Rechtsunsicherheit führte, bis zu dem Punkt, an dem sie heute die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit des ganzen Landes bedroht.
Politiker lernten damals schnell
Eingeführt hatte Riester in § 7 SGB IV, dass beim Erfüllen von zwei der vier dort genannten Kriterien (solo-selbstständig, mehr als 5/6 Umsatz mit nur einem Kunden, Weisungsgebundenheit, keine erkennbare unternehmerische Tätigkeit) eine Scheinselbstständigkeit vermutet wurde. Trotz der nach heutigen Maßstäben vergleichsweise klaren Kriterien war die Verunsicherung unter den Auftraggebern groß, viele Solo-Selbstständige erhielten keine Aufträge mehr.
Was damals anders war: Es wurde sofort eine Kommission eingesetzt und nach nur einem Jahr eine reformierte Regelung mit fünf Kriterien eingeführt, von denen drei erfüllt sein mussten. Trotzdem hielt sich das Gesetz nicht, 2003 wurde es von Riester-Nachfolger Wolfgang Clement (SPD) abgeschafft. Aus heutiger Sicht schwer zu glauben, wie schnell die Politiker damals dazulernten und weitreichende Änderungen beschlossen.
Neue Einnahmequelle für die DRV
Der Geist war aber aus der Flasche. Die Gewerkschaften malten das Gespenst der Scheinselbstständigkeit an die Wand und verlangten Verschärfungen. Zudem erkannte man bei der klammen Rentenversicherung das finanzielle Potenzial, das in Nachzahlungen durch die Auftraggeber schlummerte.
Franz Müntefering schaffte zum Jahresende 2007 den § 7b SGB IV ab und erschloss der Deutschen Rentenversicherung eine neue Einnahmequelle: Bis dahin galt bei Betriebsprüfungen die Einordnung als abhängig Beschäftigter mit Einverständnis des Auftragnehmers und dem Nachweis ausreichender Vorsorge nur für die Zukunft. Ab 1.1.2008 durfte die Deutsche Rentenversicherung (DRV) von den Arbeitgebern sämtliche Beiträge für das laufende und die letzten vier Jahr nachfordern, wenn das Auftragsverhältnis schon so lange bestanden hatte.
Nahles verhandelte im Sinne der Gewerkschaften
Die DRV entwickelte daraus in den folgenden Jahren ein florierendes Geschäftsmodell, prüfte immer mehr, vor allem gutverdienende Selbstständige und erhöhte so ihre Beitragseinnahmen um viele Milliarden Euro.
Die Gewerkschaften sahen ihre Chance gekommen, als 2013 auf die schwarz-gelbe Koalition mit Arbeitsministerin von der Leyen (CDU) eine große Koalition mit Andrea Nahles (SPD) als Bundesarbeitsministerin folgte. Sie verhandelte die Bekämpfung von Zeitarbeit und Werkverträgen in den Koalitionsvertrag und alarmierte damit Auftraggeber und -nehmer, die das Schlimmste befürchteten. In der Tat legte Nahles einen Entwurf vor, der Selbstständigkeit komplett in Frage gestellt hätte. Erst nach einem Machtwort von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) reduzierte Nahles die Änderungen auf die am 1.4.2017 in Kraft getretene Anpassung des § 611a BGB. Für Rechtssicherheit sorgte sie damit keineswegs, die Unsicherheit nahm weiter zu. Aber Schlimmeres wurde verhindert.
KSK-Krise nutzt der DRV
Ebenfalls in Nahles' Amtszeit fiel eine Veränderung, die auf den ersten Blick gar nichts mit der Statusfeststellung zu tun zu hat: Die Künstlersozialkasse geriet in große finanzielle Bedrängnis. Nahles rettete sie, indem sie die DRV beauftragte, sich bei den alle vier Jahre stattfindenden Betriebsprüfungen aller Arbeitgeber in Deutschland auch das Fremdleistungskonto vorlegen zu lassen und zu prüfen, ob unter den Leistenden auch Künstler und Publizisten sind, und ob für diese Abgaben geleistet wurden.
Der zusätzliche Aufwand wurde der DRV dadurch versüßt, dass sie bei dieser Gelegenheit auch gleich auf potenzielle Scheinselbstständigkeit prüfen konnte – wer als Einzelunternehmer/in unter eigenem Namen Rechnungen stellte, geriet so in den verschärften Fokus der Rentenversicherung.
Heil folgt auf Nahles – Rechtsunsicherheit nimmt zu
Auf Nahles folgte nach einer halbjährigen kommissarischen Leitung durch Katarina Barley Hubertus Heil als Chef des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS). Unter seiner Ägide nahm die Rechtsunsicherheit deutlich zu.
Dabei fing alles so gut an: Heil beauftragte seinen Abteilungsleiter Hans Ludwig Flecken, Fachgespräche mit allen Beteiligten zur geplanten Altersvorsorgepflicht für Selbstständige (AVP) durchzuführen. Aus den ursprünglich vier vierstündigen Treffen wurden (daran ist der VGSD nicht ganz unschuldig) sieben sechsstündige Gespräche, davon drei zum Thema Statusfeststellungsverfahren, die durchaus konstruktiv geführt wurden.
Übers Knie gebrochene Reform
Das resultierende Gesetz für eine AVP verzögerte sich aufgrund anderer Projekte des BMAS bis ins Frühjahr 2000, als die Corona-Krise begann. Als es zusammen mit Reformplänen für das Statusfeststellungsverfahren Ende 2020 wieder aus der Schublade geholt wurde, neigte sich die Legislaturperiode schon wieder ihrem Ende zu. Mit der Union als Regierungspartner konnte man sich auf eine AVP – auch angesichts der coronabedingten Nöte der Selbstständigen in dieser Zeit – nicht einigen. Die Reform des Statusfeststellungsverfahrens, die das BMAS als Fortschritt darstellte, prügelte man im April 2021 regelrecht durch zuständigen Ausschuss und Parlament, sie trat dann nach der Bundestagswahl 2021 am 1.4.2022 in Kraft.
Leider berücksichtigte die Reform keine der von den Selbstständigenverbänden geforderten Änderungen an Kriterien und Verfahren. Die fünf beschlossenen Änderungen am Gesetz waren solche, die bei den Fachgesprächen auf viele Zweifel gestoßen waren.
Weiteres Unheil braut sich in Brüssel zusammen
Der Koalitionsvertrag der Ampel von Ende 2021 versprach "nach der aktuellen Reform des Statusfeststellungsverfahrens (…) im Lichte der Erfahrungen einen Dialog mit Selbstständigen und ihren Verbänden" zu führen. Man wolle "in der digitalen und agilen Arbeitswelt unbürokratisch Rechtssicherheit (…) schaffen". Bei den hehren Worten blieb es: Das Arbeitsministerium hat nichts unternommen, um mehr Rechtssicherheit zu schaffen. Auch hinter den Kulissen ist nichts passiert: Vom "Dialog mit Selbstständigen und ihren Verbänden" war bis zum Sommer 2024 nichts zu spüren.
Während sich in Deutschland die Situation nicht verbesserte, braute sich in Brüssel weiteres Unheil zusammen. Im Dezember 2021 legte die EU-Kommission einen Entwurf für eine Richtlinie "zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit" vor. Es sollte darum gehen, Beschäftigte in der sogenannten Gig-Economy – als Beispiele werden in der Regel Liefer- und Fahrdienstleistungen wie Lieferando, Uber, Deliveroo und weitere genannt – davor zu schützen, trotz schlechter Arbeitsbedingungen mit Merkmalen der Abhängigkeit als Selbstständige arbeiten zu müssen. Begründet wird dies mit einer extrem hohen und ständig steigenden Zahl von Plattformbeschäftigten, die jedoch auf wackligen Füßen steht. Völlig unberücksichtigt blieb dabei die Gefahr, auch freiwillig und gerne Selbstständige in den Generalverdacht der Scheinselbstständigkeit zu stellen und die Rechtsunsicherheit weiter zu erhöhen.
BSG leistet seinen Beitrag zur Rechtsunsicherheit
Nach mehr als zwei Jahren Streit wurde Anfang 2024 schließlich eine Kompromiss-Fassung der Richtlinie beschlossen. Sie vermeidet einheitliche Kriterien für die gesamte EU und delegiert die Regelung an die Mitgliedstaaten. Damit besteht die Gefahr, dass in der EU ein Flickenteppich entsteht, der zu weiterer Unsicherheit führt.
Parallel dazu entwickelte sich am Bundessozialgericht (BSG) die Rechtsprechung weiter – zum Nachteil von Selbstständigen. Am 1.1. 2020 wurde Andreas Heinz Vorsitzender Richter am BSG und übernahm den Vorsitz des 12. Senats, der für Beitrags- und Mitgliedschaftsrecht der Rentenversicherung zuständig ist. Am 24.8.2023 wurde Heinz zudem Vizepräsident des BSG. Nach Einschätzung erfahrener Rentenberater vollzog Heinz mit seinen Urteilen eine Kehrtwende. Die Urteile führten zu großer Verunsicherung. Heinz rechtfertigte sie als alternativlos angesichts des Rechts, das jedoch in § 7a SGB IV aus einem dürren Satz besteht.
Insellösungen statt Gesetzesänderung
Unter Heinz' Vorsitz fiel auch das in einschlägigen Kreisen mittlerweile berühmte "Herrenberg-Urteil", das die Grundlage für eine große Anti-Selbstständigen-Offensive der DRV bildete. Zusammen mit Urteilen über den Status von Honorar-, Notfall- und Pool-Ärzten führt diese Rechtsprechung zu so großer Verunsicherung, dass die Gesundheitsversorgung und das Bildungswesen akut gefährdet sind, beispielsweise die Integration von Geflüchteten durch Sprachkurse.
Dieses Ausmaß hat immerhin dazu geführt, dass ein Dialogprozess im Arbeitsministerium in Gang gekommen ist, an dem auch der VGSD in einer Arbeitsgruppe beteiligt ist. Allerdings birgt dieser Ansatz die Gefahr, weitere Insellösungen für einzelne Gruppen zu schaffen statt die Rechtsunsicherheit grundlegend und für alle Branchen anzugehen. Dabei wäre genau dies dringend nötig. Das Statusfeststellungsverfahren bremst alle aus, sogar diejenigen, die gar keines führen, wie gerade eine Studie belegte.
(Noch) kein Champagner
Im vergangenen Vierteljahrhundert hat die Rechtsunsicherheit immer weiter zugenommen und mit dazu beigetragen, dass wir uns heute in einer schweren Wirtschaftskrise befinden. Deshalb ist jetzt keine Zeit mehr zu verlieren. Wir brauchen eine wirksame Reform, eine gesetzliche Klarstellung, die endlich für Rechtssicherheit sorgt. Dann, und erst dann, werden wir eine Flasche Champagner aufmachen.
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