Mit Mut und Charisma gegen Benachteiligung: Johanna Röh erhält den Werner-Bonhoff-Preis 2023. Sie wird für ihre beiden erfolgreichen Petitionen für faire Mutterschutzleistungen für selbstständige Frauen ausgezeichnet, aus denen nun eine Gesetzesänderung hervorgehen könnte.
Johanna (35) ist Tischlermeisterin und Restauratorin aus dem niedersächsischen Alfhausen. Sie hat am eigenen Leib erfahren, dass ein schwangerschaftsbedingter Ausfall der eigenen Arbeitskraft für Unternehmerinnen gerade in handwerklichen Berufen zu einer echten Existenzbedrohung werden kann. Denn im Vergleich zu Angestellten gibt es für schwangere Betriebsinhaberinnen keine auch nur annähernd vergleichbare Unterstützung.
Johannas Engagement wuchs aus eigener Betroffenheit
Rasch merkte Johanna, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht alleine war. In einer Change.org- und einer darauf aufbauenden, im Frühjahr 2022 gestarteten Bundestags-Petition, hat sie konkrete Verbesserungsvorschläge benannt und damit in der Bundesregierung das Vorhaben angestoßen, die aktuellen Regeln zu überarbeiten. Am Erfolg der Petitionen hat der VGSD einigen Anteil, allein ihre Bundestags-Petition wurde 112.000 mal mitgezeichnet. Auf diese Weise hat Johanna Verbesserungen angeregt, von denen eine Vielzahl von betroffenen Selbstständigen profitieren könnte. Hierfür wird sie heute Abend in Berlin mit dem „Werner-Bonhoff-Preis-wider-den-§§-Dschungel 2023“ ausgezeichnet. Johanna ist nach Tim Wessels (2013) und Christa Weidner (2016) bereits das dritte VGSD-Mitglied, das den Preis erhält wird. Der Preis ist mit 50.000 Euro dotiert. Fotos von der Veranstaltung, an der eine ganze Reihe von VGSD-Mitgliedern teilnehmen, werden wir "nachliefern".
In diesem Video stellt die Bonhoff-Stiftung den Fall von Johanna Röh vor
6,61 Euro Krankentagegeld pro Tag
Dass ihre Familiengründung mit finanziellen Einbußen verbunden sein würde, war Johanna schon früh klar. Nicht vorhersehbar war für sie jedoch, dass sie faktisch ab Beginn ihrer Schwangerschaft aufgrund starker gesundheitlicher Beschwerden arbeitsunfähig sein würde.
Von ihrer Krankentagegeldversicherung erhielt sie einen derart kleinen Betrag (6,61 Euro pro Tag!), dass dieser natürlich in keiner Weise reichte, um ihre laufende Kosten zu decken – neben den Lebenshaltungskosten verursacht ein solches Unternehmen auch noch erhebliche betriebliche Ausgaben. Ein unglücklicher Einzelfall? Nein. Gerade für Unternehmerinnen in handwerklichen Berufen, die regelmäßig eine körperliche Beanspruchung mit sich bringen und die Gesundheit von werdenden Müttern und ungeborenen Kindern akut gefährden können, fehlt es an Regelungen, die eine Chancengleichheit sicherstellen, wie etwa in der Landwirtschaft, wo schwangere Landwirtinnen einen Betriebshelfer zur Verfügung gestellt bekommen.
Den Fall von Johanna hat die Stiftung für ihre Online-Fallsammlung detailliert recherchiert und beschrieben.
Ebenfalls nominiert: Anahid Klotz aus Bayern
Johanna musste sich gegenüber zwei anderen Nominierten durchsetzten, die zusammen mit ihr aus einer größeren Zahl von Bewerber/innen ausgewählt wurden, die im letzten Jahr eine Beschreibung ihrer Erlebnisse und ihres Engagements für die Fallsammlung der Stiftung eingereicht hatten.
Im Juli hatte die Stiftung zusätzlich zu Johanna auch Anahid Klotz aus Pähl (Bayern) nominiert, Betreiberin der "Asinella Eselfarm". Ebenfalls in der engeren Wahl der Jury war der selbstständige Unternehmensberater Reiner Hermann aus Erkrath (Nordrhein-Westfalen). Insbesondere letzterer dürfte vielen VGSD-Mitgliedern, vor allem aus diesem Bundesland, bekannt sein.
Historischer Bauernhof sollte wegen zu geringen Gewinns abgerissen werden
Doch zunächst zu Anahid Klotz: Nach mehreren Jahrzehnten sollte ihr kleiner historischer Bauernhof im "baurechtlichen Außenbereich" von Pähl in Bayern plötzlich nicht mehr als Landwirtschaft gelten, weil dieser aus Sicht des Landratsamtes zu wenig Gewinn erwirtschaftete. Neben einer überschaubaren Vermarktung von Fleisch, Wolle und Honig, hält die Familie auch Esel, mit denen sich Anahid Klotz seit 2008 auf dem Hofgrundstück erfolgreich eine zusätzliche Existenz mit (erlebnis-)pädagogischen und therapeutischen Dienstleistungen aufgebaut hat.
Anfang 2020 veranlasste das Landratsamt Weilheim Baukontrollen und verfügte für diverse Gebäude, an denen sich jahrzehntelang niemand störte, den Abriss. Fast drei Jahre kämpfte Anahid Klotz um den Erhalt des Hofes. Ende 2022 kam schließlich ein Vergleichsvertrag zustande, der ihr unter Auflagen die Fortführung des Betriebes erlaubt. Der Fall veranschaulicht, mit welchen überraschenden Existenzbedrohungen auch ein etabliertes kleines Unternehmen durch die Verwaltung noch nach jahrzehntelanger Existenz ringen muss. Hier geht es zur Fallbeschreibung.
Reiner Herrmann: Mit Facebook-Gruppe Widerstand gegen Soforthilfe-Rückzahlungen
Gleich zu Beginn der Corona-Pandemie schafften Bund und Länder Förderprogramme für in wirtschaftliche Not geratene Kleinunternehmer und Solo-Selbstständige. Nordrhein-Westfalen entwickelte die gut gemeinte „NRW-Soforthilfe“, die jedoch rasch mit einem Wirrwarr aus sich ständig ändernden Antrags-Bedingungen und -voraussetzungen irritierte. Das Land veränderte durch eine rückwirkend erlassene Förderrichtlinie die Förderbedingungen seines milliardenschweren Programms nachträglich zu Lasten der Soforthilfe-Empfänger.
Reiner Hermann gründete deshalb die Facebook-Gruppe "Interessengemeinschaft NRW-Soforthilfe", der sich rund 10.000 Selbstständige aus NRW anschlossen, um sich gegen die Verwaltungspraxis und Rückzahlungsbescheide des Landes NRW zu wehren. Ein umfassendes Rechtsgutachten finanzierte die IG mittels Crowdfunding, dessen Ergebnisse dienten als Grundlage zahlreicher Klagen von "IG-Mitgliedern".
Oberverwaltungsgericht gab Klägern Recht
Mitte März 2023 urteilte das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in drei Musterverfahren, dass die erfolgten (Teil-)Rückforderungen von Corona-Soforthilfen im dem ersten Lockdown 2020 rechtswidrig und die Rückforderungsbescheide deshalb aufzuheben seien. Hier geht es zum Fall von Reiner Herrmann.
Mit der Nominierung würdigt die Stiftung die Initiative und das Engagement der einzelnen Unternehmer/innen, die zum Sprachrohr und zum Unterstützer von zahlreichen Betroffenen geworden sind, die ansonsten wohl vielfach resigniert hätten. Jedes Jahr wächst die Online-Fallsammlung mit Beispielen für eine Vielzahl von Konflikten von Selbstständigen mit der öffentlichen Verwaltung und Hürden, die diese aufstellt.
Stiftung möchte "Bürokratie-Therapie" betreiben
Solchen entgegenzuwirken und Verbesserungen im Kleinen wie im Großen anzustoßen, beginnt oftmals mit der Initiative Einzelner. Kernstück des Bonhoff-Projekts „Bürokratie-Therapie“ ist deshalb die Online-Fallsammlung, mit der Preisverleihung als Leuchtturm, die mit diesen Fällen auf wiederkehrende Probleme in der öffentlichen Verwaltung aufmerksam macht. Gleichzeitig würdigt die Online-Fallsammlung die Initiative des Einzelnen und hat zum Ziel, nicht nur Best-practice-Beispiele zu sammeln, sondern auch das Bewusstsein für den Segen einer gesunden Fehlerkultur zu schaffen, die dann wiederum eine nachhaltige Verbesserung in den öffentlichen Verwaltungen befördert.
Bewirb dich für den Bonhoff-Preis 2024
Es ist ganz einfach, sich für den Bonhoff-Preis zu bewerben, wenn auch du zu denjenigen gehörst, die Widerstand gegen den §§-Dschungel leisten, ob im VGSD oder an anderer Stelle. Noch bis Ende dieses Jahres kannst du dich für das Folgejahr bewerben – vielleicht sehen wir uns dann nächstes Jahr in Berlin bei der Verleihung des Bonhoff-Preises 2024. Oder engagiere dich aktiv für dein Anliegen im VGSD und schaffe so die Grundlage für deine Bewerbung in einem der folgenden Jahre. Wir unterstützen dich in deinem Engagement und freuen uns natürlich, wenn nach Tim Wessels, Christa Weidner, Vera Dietrich, David Erler und Johanna Röh noch weitere Vereinsmitglieder für diesen Preis nominiert oder mit ihm ausgezeichnet werden!
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