Seit dem "Herrenberg-Urteil" scheint es kaum noch möglich, Lehrkräfte als Selbstständige zu beschäftigen. Im Arbeitsministerium läuft deshalb ein Dialogprozess, an dem auch der VGSD und andere BAGSV-Verbände beteiligt sind. Das sind die Knackpunkte.
Im Politikbetrieb ist Sommerpause, in den Arbeitsgruppen wird gearbeitet: Sechs Arbeitsgruppen treffen sich in den Sommermonaten mehrmals. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat sie eingerichtet. Arbeitsauftrag: Fragen des "Erwerbsstatus von Lehrkräften" zu klären. So formuliert es das BMAS. Man könnte auch sagen: Diskutieren, wie der Bildungsbetrieb in Deutschland aufrechterhalten werden kann.
Die sechs Arbeitsgruppen teilen sich auf folgende Bereiche auf:
- Integrations- und Berufssprachkurse
- Musikschulen
- Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen
- "Freie Kurse" an Volkshochschulen
- Berufliche Bildung
- Gesundheit/Yoga
Ohne Selbstständige geht in der Bildung nichts
In all diesen Branchen herrscht große Unsicherheit, die sich nach dem sogenannten Herrenberg-Urteil vom Juni 2022 immer weiter aufgebaut und mit einem Papier der Sozialversicherungsträger vom Mai 2023 zu einer großen Anti-Selbstständigen-Offensive der DRV ausgewachsen hat. Seitdem ist für Bildungsträger aller Art unklar, ob sie überhaupt noch selbstständige Lehrkräfte beschäftigen können und wenn ja, wie. Dabei zeigt allein die Zahl der Arbeitsgruppen, um welches Ausmaß es geht: Egal ob Musikunterricht für Kinder, Sprachkurse für Geflüchtete, Volkshochschul-, Fitness- und Yoga-Kurse, berufliche Weiterbildung – ohne selbstständige Lehrkräfte kämen weite Teile des Bildungswesens zum Erliegen.
Dokument aus anderer Arbeitsgruppe geleakt
Nachdem immer mehr Verbände Alarm geschlagen hatten, startete das BMAS im Frühsommer den Dialogprozess. Dieses Prinzip der in Gesprächsrunden erarbeiteten Insellösungen für einzelne Berufsgruppen hatte das BMAS kurz zuvor für die ebenfalls von Scheinselbstständigkeit bedrohten "Pool-Ärzte" angewendet.
Der VGSD ist am Dialogprozess beteiligt und nimmt an vertraulichen Arbeitsgruppen-Sitzungen teil, so dass wir uns zu deren Inhalten nicht äußern können. Aus einer anderen Arbeitsgruppe wurde nun jedoch ein Dokument der Öffentlichkeit zugespielt und ist nun frei zugänglich. Im Folgenden beziehen wir uns auf dieses sowie andere öffentlich verfügbare Quellen.
Erste Runde ohne Perspektive der gerne Selbstständigen
Am 14. Juni waren rund 15 Vertreter/innen von DRV, Verbänden und Gewerkschaften zum Gespräch mit Staatssekretär Rolf Schmachtenberg ins BMAS geladen. Damit waren unterschiedliche Perspektiven auf das Thema vertreten. Nur eine nicht: die der gerne und freiwillig Selbstständigen. Der VGSD erfuhr aus anderer Quelle von dem Gespräch und bat darum, an dem Prozess beteiligt zu werden. Wir wurden zwar nicht zur Eröffnungsveranstaltung eingeladen, aber vom zuständigen Abteilungsleiter über den Verlauf unterrichtet und in die Arbeitsgruppe "Berufliche Bildung" eingeladen. Außerdem haben sich weitere BAGSV-Verbände auf unsere Anregung hin mit Erfolg um eine Teilnahme bemüht. Gemeinsam bringen wir die Perspektive der Mehrzahl der gerne und freiwillig Selbstständigen ein.
DRV gibt Kriterienkatalog vor
In dem Fachgespräch am 14. Juni stellte die DRV einen Kriterienkatalog für eine unternehmerische Tätigkeit vor:
- Nur allgemeine inhaltliche Rahmenvorgaben
- Einfluss auf organisatorische Ausgestaltung der Tätigkeit
- Mitbestimmung bei Unterrichtsort und -zeit
- Beteiligung an Kosten z. B. für Unterrichtsräume
- Möglichkeit des Einsatzes Dritter (Vertretung)
- Akquise von Schülern und Unterrichtung auf eigene Rechnung
- Vergütung auch abhängig von variablen Elementen
- Kein Ausfallhonorar
- Keine Verpflichtung zur Vorbereitung und Durchführung gesonderter Schülerveranstaltungen
- Keine Verpflichtung zur Teilnahme an Lehrer- und Fachbereichskonferenzen o. Ä.
- Keine Meldepflicht für Unterrichtsausfall
DRV behält sich abschließende Bewertung vor
Dieser Katalog sei keinesfalls abschließend, hieß es. Weitere Indizien für Selbstständigkeit seien möglich. Es müssten nicht alle Kriterien parallel erfüllt werden. Vielmehr behält sich die DRV in jedem Einzelfall die abschließende Bewertung vor: In der "Gesamtbetrachtung" der Tätigkeit müsse "ein überwiegendes Gewicht für eine selbstständige Tätigkeit sprechen".
Mit diesen Kriterien wurden die Arbeitsgruppen an die Arbeit geschickt. Sie sollen auf dieser Basis "prüfen, ob und welche Anpassungen an den vorhandenen Organisationsmodellen erforderlich sind, damit eine Lehrkraft selbstständig tätig werden kann". Vorgeschlagenes Ergebnis: "Sachverhaltsbeschreibungen in Verbindung mit Musterverträgen".
Anbietern drohen Nachzahlungen
Für die Anbieter bedeutet die aktuelle Situation eine große Unsicherheit – können sie ihre Angebote überhaupt aufrechterhalten? Für das laufende und die vergangenen vier Jahre drohen ihnen aufgrund der veränderten Rechtsauslegung rückwirkend hohe Nachzahlungen. Sie stehen vor der Alternative, alle Lehrkräfte anzustellen (was viele wahrscheinlich nicht mitmachen würden) oder ihre Angebote einzustellen und die Lehrkräfte ihrer Aufträge zu berauben – obwohl in dem Dialogprozess vielleicht eine Lösung gefunden wird. Deshalb hat die DRV zugesichert, "dass im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen keine weiteren Betriebsprüfungen hierzu stattfinden sollen. Es werden keine Bescheide erstellt oder versandt. Anhängige Widerspruchsverfahren werden ruhend gestellt. Diese Beschlüsse gelten mit sofortiger Wirkung bis zum 15. Oktober 2024." Wenn sie danach wieder aufgerollt werden, ohne dass sich an der veränderten Rechtsauslegung etwas verändert hat, drohen allerdings nach Ablauf des Stillhalteabkommens weiterhin hohe Nachzahlungen.
Die Ergebnisse des Fachgesprächs vom 14. Juni enthalten auch die gemeinsame Zielsetzung: "Alle Beteiligten waren sich einig, dass die bestehenden Kursangebote aufrechterhalten werden sollen."
Geleaktes Dokument offenbart Frust
Nun zeigen die Arbeitsgruppen allerdings: Einfach wird das nicht. Es gibt verschiedene Knackpunkte, die eine Einigung schwierig machen. Der Newsletter-Dienst Table Media veröffentlichte in seinem "Berlin.Table" am 20. August ein Protokoll der Arbeitsgruppe "Integrations- und Berufssprachkurse". Das Dokument ist kostenlos zugänglich, erfordert jedoch eine Anmeldung mit einer E-Mail-Adresse.
Das Dokument offenbart einiges an Frust, vor allem Unzufriedenheit mit den von der DRV vorgegebenen Kriterien. Im Protokoll heißt es: "Dabei orientiert sich die AG allerdings einseitig laut Auftrag an den Kriterien der DRV-Präsentation vom 14.06.2024, obwohl hier ebenfalls die Möglichkeit bestünde, neue bzw. eigene Kriterien zu entwickeln." Und weiter: "Anliegend kommen wir diesem Arbeitsauftrag nach, obwohl das Herrenberg-Urteil eigentlich etwas anderes besagt." Die Arbeitsgruppe fügt sich also offenbar ihrem Auftrag, obwohl sie schon vorab feststellt, dass das Ziel so nicht erreicht werden kann: "Das Vorgehen der AG wird nicht zu Rechtssicherheit führen (Klageweg von Einzelpersonen/Einrichtungen gegen die Absprachen mit der DRV sind möglich). Wie kann langfristige Sicherheit erzielt werden?"
BMAS will gesetzliche Neuregelung vermeiden
Aus dem Protokoll spricht der Wunsch, eine nachhaltigere Lösung zu finden, statt sich an den einseitig von der DRV diktierten Kriterien abzuarbeiten. "Eine einheitliche Beurteilung der Frage der Selbstständigkeit müsste ein komplettes Umdenken sowie die Beschränkung auf einige wenige grundsätzliche 'Kriterien' zur Folge haben, wollte man diese Vereinheitlichung wirklich umsetzen", heißt es.
Grundsätzlich stellt sich die Frage: Kann Rechtssicherheit ohne Gesetzesänderung geschaffen werden? Der Arbeitsauftrag des BMAS geht davon aus – oder, anders gesagt, zielt darauf ab, weitere Insellösungen zu schaffen und ein gewisses Maß an Unsicherheit zu erhalten. Nichts anderes bedeutet es, wenn die DRV in ihrer Präsentation feststellt, die Kriterien seien nicht abschließend, müssten nicht alle parallel erfüllt werden, entscheidend sei die "Gesamtbetrachtung", in der ein "überwiegendes Gewicht" für die Selbstständigkeit sprechen müsse.
Es ist bemerkenswert, dass das BMAS eine gesetzliche Neuregelung vermeiden will. Denn die Umsetzung der im Frühjahr beschlossenen Plattformrichtlinie erfordert ohnehin ein Tätigwerden des Gesetzgebers. Es wäre die Gelegenheit, endlich grundsätzlich Rechtssicherheit zu schaffen.
Kriterien bestehen Realitätscheck nicht
Stattdessen schlagen sich die verschiedenen Arbeitsgruppen mit den vorgegebenen Kriterien herum. Das geleakte Protokoll zeigt exemplarisch, wie diese immer wieder am Realitätscheck scheitern. In dieser Arbeitsgruppe gibt es für die Sprachkurse viele Vorgaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), über die die Träger gar nicht selbst entscheiden können. Das wird schon beim ersten Kriterium "nur allgemeine inhaltliche Rahmenvorgaben" schwierig: Das BAMF macht Vorgaben und Kurskonzepte, auf die die Träger und Lehrkräfte keinen Einfluss haben. Wäre hier alles frei gestaltbar, wären die Kurse nicht vergleichbar und eine Qualitätssicherung nicht möglich. Ähnliche Probleme haben mit Sicherheit auch andere Anbieter. Im Bildungsbereich sind Curricula, Prüfungsordnungen, staatliche Vorgaben und Standards allgegenwärtig.
Fragen werfen bei den Beteiligten auch die nicht näher ausgeführten und eng zusammenhängenden Kriterien "kein Ausfallhonorar" und "keine Meldepflicht für Unterrichtsausfall" auf. "Was ist hier konkret gemeint? Auf welchen Stundenumfang (Einzelstunden oder auf den 'Rest'-Kurs) bezieht es sich? Gibt es eine Differenzierung nach dem 'Verursacherprinzip'?", notiert die AG im Protokoll zum "Ausfallhonorar". "Wer meldet an wen?", fragt sich die Runde. Die Kriterien stehen ohne nähere Erläuterung in der Liste.
"Es sollten andere Lösungswege gesucht werden"
Unter "Ausfallhonorar" fragt sich die AG auch: "Betrachtet die DRV diese Forderung als 'unternehmerisches Risiko'?" Das unternehmerische Risiko soll sich für die DRV innerhalb eines Auftrags verwirklichen. Dass das unternehmerische Risiko auch in der Akquise der Aufträge, in ihrem Zusammenspiel und dem eventuellen Ausbleiben von Folgeaufträgen liegt, bleibt außen vor.
"Beteiligung an Kosten z. B. für Unterrichtsräume" heißt ein weiteres Kriterium. Diese Rechnung kann für eine Lehrkraft nur dann aufgehen, wenn sie ein höheres Honorar bekommt. Das Protokoll der AG Integrations- und Berufssprachkurse beschäftigt sich auch mit der Frage der Kosten von Unterrichtsmaterial und hält fest, dass über die frei verhandelte Vergütungshöhe auch sichergestellt werden könnte, dass dadurch Erstattungen für die Kosten übernommen werden könnten. Dann heißt es weiter: "Aufgrund der steuerlichen Fragestellungen und des administrativen Aufwands für die Träger stellt diese Möglichkeit aus Sicht der Verbände keine Lösung dar. Es sollten gemeinsam mit der DRV andere Lösungswege gesucht werden, das 'unternehmerische Risiko' für die Lehrkräfte darzustellen."
Rechtssicherheit für alle Branchen ist das Ziel
Es ist nicht die einzige Arbeitsgruppe, aus der von Unzufriedenheit zu hören ist. Es ist nur die einzige, von der ein ganzes Protokoll öffentlich geworden ist. Auch aus anderen Gruppen berichten Beteiligte von schlechter Stimmung, unterschiedlichen Interessenlagen und Ratlosigkeit, was eine Lösung angeht. Wie auch immer es in den Arbeitsgruppen weitergeht, im Oktober ist im BMAS ein weiteres Fachgespräch angesetzt.
Wie sehen wir unsere eigene Rolle in diesem Prozess? Zunächst einmal wollen wir unseren konstruktiven Beitrag leisten, die aktuelle Krise zu überwinden und für mehr Rechtssicherheit im Bildungsbereich zu sorgen. Unser zentrales Ziel bleibt natürlich, Rechtssicherheit für alle Branchen zu erreichen. Wir stellen uns die Frage: Lässt sich die Vorgehensweise im Bildungsbereich auf andere Branchen übertragen? Wir sehen uns darin bestärkt, dass es keine dauerhafte Rechtssicherheit ohne eine Gesetzesänderung oder mindestens eine klare rechtsaufsichtliche Weisung des BMAS an die DRV geben wird. Wir nutzen die Gelegenheit, uns mit weiteren Verbänden zu vernetzen und ein immer breiteres Bündnis aufzubauen, um diese Zielsetzung zu erreichen.
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