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Geplante EU-Richtlinie zur Plattformarbeit Wir sind keine Fahrradkuriere – sollen aber wie diese für scheinselbstständig erklärt werden

In einer neuen EU-Richtlinie geht es vordergründig um den Schutz von Fahrradkurieren, tatsächlich aber gefährdet sie die Existenz zahlloser bisher zweifelsfrei Selbstständiger!

Besserer sozialer Schutz für Fahrrad-Kuriere und Uber-Fahrer? Absolut! Pauschale Aberkennung der Selbstständigkeit aller – auch freiwillig und gerne Selbstständiger? Keinesfalls! Doch genau das droht, wenn im Herbst das Europäische Parlament über eine Richtlinie für bessere Arbeitsbedingungen für Plattformarbeiter abstimmt. Ein Gegenvorschlag aus dem Parlament bedroht des Lebensmodell von echten Selbstständigen sogar noch mehr als die ursprüngliche Fassung der EU-Kommission. Zwölf Fakten zur geplanten Plattformarbeit-Richtlinie:

Frontalangriff auf die Selbstständigkeit

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Was aktuell in Brüssel beraten wird, gleich einem Frontalangriff auf Selbstständige. Nach einem bereits umstrittenen Kommissionsentwurf für eine Richtlinie über Plattformarbeit (engl. Platform Workers Directive, PWD) (wir berichteten), hat die sozialdemokratische Berichterstatterin des Europäischen Parlaments, die italienische Europaabgeordnete Elisabetta Gualmini, eigene Reformideen entwickelt, die weit über den Ausgangsentwurf hinausgehen. Ihr Entwurf wird im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten beraten und dann an das Parlament weitergeleitet.

Damit droht Selbstständigen weitaus mehr Rechtsunsicherheit hinsichtlich ihres Erwerbsstatus als ohnehin schon nach deutschem Recht.

1. Neue Vorgaben bereits ab 2023?

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Sollte einer der beiden Entwürfe oder seine Änderung im Herbst als Vorlage angenommen werden, könnte die Richtlinie noch dieses Jahr beschlossen werden und bereits 2023 in Kraft treten – und muss dann binnen zwei Jahren in deutsches Recht umgesetzt werden.

Beobachter gehen davon aus, dass die Reform noch im Oktober zur Beratung ins Parlament eingebracht und hinter verschlossenen Türen im sogenannten Trilog verhandelt wird. Hier können die Mitgliedsländer je nach Betroffenheit noch wesentliche Änderungen durchsetzen, wie zuletzt etwa beim "Digital Markets Act", einer wettbewerbsrechtlichen Verordnung zum Schutz neuer und bestehender EU-Wettbewerber gegen die Big Four der Tech-Industrie: Google, Amazon, Facebook/Meta und Apple.

Für uns bedeutet das vor allem eines: Die Öffentlichkeit und uns offen gegenüberstehende Politiker auf die Bedrohung aufmerksam machen! Keinesfalls dürfen wir warten, bis die Regeln im deutschen Recht ihre problematische Wirkung entfalten.

Schnelle Umsetzung geplant (H2)

Dass das SPD-geführte Arbeitsministerium unter Hubertus Heil nicht lange mit der Umsetzung in deutsches Recht warten wird, gilt als sicher. Sein Eckpunktepapier "Faire Arbeit in der Plattformökonomie" (wir berichteten) sieht die Einbeziehung von Solo-Selbstständigen in die gesetzliche Rente vor und erschien bereits Ende November 2020, gut ein Jahr vor dem Richtlinienvorschlag der EU-Kommission (Dezember 2021). Vorbild ist dabei Spanien, das bereits entsprechende Regelungen hat und sich nun einer Kündigungswelle der Lieferanten wie etwa Gorilla und deren Rückzug aus dem Markt gegenüber sieht, wie netzpolitik.org berichtet.

2. Enormer Schaden für die Wirtschaft

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Mehreinnahmen für die Rentenkasse, das interessiert auch die Kommission mit ihrem Entwurf im Blick: Nicht umsonst beziffert sie darin die Höhe neu zu generierender Beiträge auf 4,0 Milliarden Euro jährlich. Noch nicht beziffert ist der Schaden für die Gesamtwirtschaft, wenn die Auftragsvergabe an Solo-Selbstständige und Kleinstunternehmen durch überbordende Bürokratie und drohenden Sanktionen derart unattraktiv gemacht wird.

Das Modell der Plattformökonomie wird in Europa in schweres Fahrwasser geraten. Erste Großkanzleianwälte raten, Investments im Bereich Private Equity und bei Start-Ups in diesem Bereich zu überdenken. Die bestehenden hohen Bewertungen müssten laut ihnen – falls die Richtlinie in dieser Form in Kraft tritt – korrigiert werden. Start-ups in diesem Bereich der Plattformökonomie würden also deutlich schwerer an Geld kommen.

3. Die Rentenkassen sind klamm

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Das gilt auch innerhalb der EU. Es fehlen Beitragszahler. Selbstständige zahlen selten freiwilllig ein, sondern sorgen da, wo es ihnen frei steht, lieber privat vor. Das ist vielen Staaten beziehungsweise ihren Sozialministern ein Dorn im Auge.

4. Plattformarbeit boomt

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Die digitale Plattformwirtschaft zählte bislang zu den Profiteuren der Corona-Krise. Der Rat der Europäischen Union sieht sie sogar als eine treibende Kraft für Innovation und Beschäftigungswachstum an. Die Umsätze sollen zwischen 2016 und 2020 beinahe auf das Fünffache, von schätzungsweise 3 Milliarden Euro auf etwa 14 Milliarden Euro gestiegen sein. Die Kommission bezifferte die Zahl der Plattformtätigen mit mehr als 28 Millionen Menschen in der EU und rechnet in drei Jahren bereits mit einem Anstieg auf 43 Millionen.

Problem: Das Gros der Gig- oder Crowdworker agiert als "Selbstständige/r", auch in aus EU-Perspektive offensichtlichen Fällen von Scheinselbstständigkeit (laut EU-Kommission 5,5 Millionen Betroffene).

5. Faire Arbeitsbedingungen in prekären Jobs

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Klingt gut, nur wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen! Im Fokus stehen Fahrradkuriere in Montur oder Rad in Firmendesign, die vermeintlich freiwillig ein "eigenes Lieferbusiness" betreiben – ohne Arbeitnehmerrechte und soziale Absicherung. Zum Schutz der Old Economy und Wettbewerbern, die ihre Fahrer/innen anstellen (wie es in Deutschland bereits die Regel ist), sollen auch Anbieter von Lieferapps oder -websites, Dienstleistungs-Apps sowie Fahrdienste ihren Arbeitgeberpflichten nachkommen.

6. Pauschaler Verlust der Selbstständigkeit

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Von den negativen Auswirkungen der Richtlinie betroffen sind aber nicht nur Menschen in prekären Jobs, sondern alle Selbstständigen, wenn sie sich einer Website, etwa einer Agentur, Vermittlungsplattform zur Auftragsakquise bedienen.

Möglich machen das zwei juristische Kniffe, die die bestehende Rechtsunsicherheit in puncto Scheinselbstständigkeit deutlich erhöhen und auch durch die Änderungsvorschläge der Berichterstatterin keineswegs entschärft werden.

Kniff 1: Alles ist Plattform

Damit die Richtlinie möglichst viele Auftraggeber von Selbstständigen trifft, definiert die EU-Kommission die von ihr verwendeten Begriffe möglichst ungenau. Das tun beide Entwürfe, indem sie einen Plattform-Begriff verwenden, der nicht nur Fahr- und Kurierdienste als sogenannte "digitale Arbeitsplattform" stempelt, sondern nahezu jeden Auftraggeber, auch Agenturen und Vermittler, die freie Experten an Endkunden vermitteln – bis hin zum Kunden selbst – wenn er eine App oder Webanwendung für die Organisation seiner Dienstleister betreibt. Eine Differenzierung nach Branchen, Marktmacht, Unternehmenskennzahlen oder Businessmodell der Plattformen fehlt – in beiden Entwürfen. Wer auch immer die Arbeit der bei ihm tätigen Selbstständigen online organisiert, gilt automatisch als "digitale Arbeitsplattform".

Laut Kommissionsentwurf sollen Wohnungsplattformen wie AirBNB ausgenommen sein, da "der Hauptzweck in der Nutzung oder Angebot von Gütern besteht (z.B. Vermietung von Unterkünften)", heißt es in Art 2 Abs. 2 des Entwurfs. Eine Ausnahme gelte auch für Dienstleistungsanbieter, bei denen die Organisation der von der Person geleisteten Arbeit nicht untergeordneter oder rein nebensächlicher Natur ist. Digitale "schwarze Bretter", so ein häufig gewähltes Beispiel, wären damit wohl ausgenommen, der Rest nicht. Gemeint sind wohl Kleinanzeigenbörsen, die Stellenanzeigen auflisten ohne Zusatzleistungen zu bieten.

Kniff 2: Alles ist Beschäftigung

Soll die Beurteilung eines Sachverhalts schnell und pauschal gehen, dann arbeiten Juristen mit Vermutungen. Fatal nur, dass das deutsche Sozialrecht dieses Mittel bislang nicht kennt. Die Umsetzung in deutsches Recht führt zu einem Systembruch bei einem ohnehin schon komplexen und widersprüchlichen Recht. Mit dem neuen Recht könnte die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV) in Zukunft bei jedem Auftrag über eine "Plattform" eine Beschäftigung dank des juristischen Kniffs einfach vermuten und eine "Beschäftigung" mit allen Rechtsfolgen feststellen.

Bislang muss die DRV eigentlich – auch wenn Praktiker die Einhaltung dieser Regel hinter vorgehaltener Hand in Frage stellen – bei einem Verfahren zur Feststellung des Erwerbsstatus' die Kriterien, die für eine und gegen eine Selbstständigkeit sprechen, im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände abwägen, heißt: begründen! Nach deutschem Recht müssen die Voraussetzungen der Beschäftigung somit erfüllt sein. Nicht nach künftigem EU-Recht!

Wann die Vermutung greift, wollen EU-Kommission und -Parlament unterschiedlich regeln:

EU-Kommission

Ungenau und niederschwellig, aber rechtlich angreifbar wäre der Vorschlag der Kommission, den wir euch im Mai vorgestellt und zum Selbststest vorgelegt haben. Euer Votum in 101 Kommentaren zeigte deutlich: Die Kriterien werden den Geschäftsbeziehungen, die ihr mit Vermittlern unterhaltet, vielfach nicht gerecht und würden viele von euch in den Beschäftigten-Status zwingen. Wie das?

Laut Kommission gilt ein Selbstständiger als "Beschäftigter", wenn die "digitale Arbeitsplattform" die Arbeitsleistung kontrolliert. Und das wird vermutet, wenn zwei dieser fünf Kriterien erfüllt sind (vgl. Art 4 Abs 2):

  • Effektive Bestimmung der Vergütungshöhe oder Obergrenzen
  • Überwachung der Arbeitsausführung auf elektronischem Weg oder Überprüfung der Qualität der Ergebnisse, auch elektronisch
  • Einschränkung der Möglichkeiten, Zeiten frei zu wählen, Aufgaben abzulehnen, Ersatzkräfte in Anspruch zu nehmen
  • Erscheinungsbild oder Verhalten vorgeben
  • Einschränkung bei Aufbau Kundenstamm oder Arbeit für Dritte

Gegenentwurf

Im Gegenentwurf von Gualmini rutschen diese Kriterien in die Präambel der Richtlinie, werden um sechs (!) zusätzliche erweitert und sind damit rechtlich nicht mehr verbindlich – und damit auch nicht vor Gericht angreifbar. Wirtschaft und konservative EU-Abgeordnete sehen das durchaus kritisch und befürchten gar den Zusammenbruch der Plattformökonomie. "Nach dem jetzigen Vorschlag wird jede Arbeit auf einer Plattform als Arbeitsverhältnis betrachtet, wodurch Selbstständige und Freiberufler praktisch vom Markt verschwinden“, sagte EVP-Abgeordnete Radan Kanev gegenüber dem Onlinemagazin Euractiv.

Dies verstoße „in vielerlei Hinsicht gegen den gesunden Menschenverstand und den Kern der sozialen Marktwirtschaft.“

7. Plattform muss Gegenteil beweisen und zahlen

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Will die "Plattform" nicht Arbeitgeber sein, kann sie sich wehren. Nur: Einfach ist das nicht. Um die Vermutung zu widerlegen, muss die "Plattform", also der Auftraggeber oder Vermittler beweisen, dass der Freelancer wirklich selbstständig tätig war. Beiträge zahlen soll er trotzdem, da ein Widerspruch oder anderes Verfahren zur Klärung des Status, keine "aufschiebende Wirkung" hat. Wie die bislang zuständige Clearingstelle der DRV die nach Einführung des neuen Rechts zu befürchtende Welle an Verfahren bewältigen will, ist unklar.

8. Schutz vor technischer Überwachung

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Weil viele Plattformen bislang die Performance ihrer bisher "Selbstständigen" ohne deren Wissen via App mittels "Managing Algorithms" und andere KI-Formen überwachen und bewerten, sollen Betroffene mehr Rechte erhalten: Eine Offenlegung der Wirkungsweise der Algorithmen (vielfach ein Geschäftsgeheimnis) sowie Auskunfts- und Beteiligungsrechte sollen Abhilfe schaffen. Es ist jedoch umstritten, wie dies umgesetzt werden soll.

9. Eigene Absicherung zählt nicht

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Wie schutzbedürftig der Selbstständige tatsächlich ist, ist nicht relevant. Eine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rente droht allen Selbstständigen, auch solchen die bereits ausreichend für das Alter vorgesorgt haben und dafür langfristige Verpflichtungen eingegangen sind. Eine Ausnahme oder Übergangsregelung ist nicht vorgesehen.

10. Geringes Medieninteresse

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Obwohl nahezu jeder Selbstständige und Auftraggeber betroffen sein kann, ist noch immer keine echte Debatte über die EU-Richtlinie entstanden. Welche Auswirkungen diese Reform auf die Wirtschaft haben könnte, ist auch wissenschaftlich nicht wirklich untersucht worden. Angesichts der Komplexität der Wirkmechanismen, berichten Medien, wenn überhaupt, meist stark vereinfachend, nämlich nur aus der Perspektive von prekär Beschäftigten. Die Auswirkungen auf den Rest der Selbstständigen wird übergangen.

11. Englisch hilft

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Dass die Debatte hierzulande kaum geführt wird, liegt auch an dem Umstand, dass sie auf Englisch läuft. War der Ausgangsentwurf vom Dezember 2021 noch in allen EU-Sprachen zu lesen, ist es der Gegenvorschlag von Berichterstatterin Gualmini nicht mehr. Verbände und Interessenvertreter nehmen vielfach gleich auf Englisch Stellung – ebenso wie die Wissenschaft. Die fachlichen Stellungnahmen der Länder sind vielfach in italienischer Sprache!

12. Ein CDU-Politiker könnte helfen – aber wird er es tun?

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Da der zuständige Ausschuss im Parlament in den nächsten Wochen abstimmen muss und die Änderungsanträge den Richtlinienvorschlag der Kommission noch unsicherer und gefährlicher für echte Selbstständige machen würde, ruhen die Hoffnungen mancher auf dem deutschen Berichterstatter Dennis Radtke (CDU). Er stimmt in kleiner Runde die Richtlinienversion ab, die dann im Parlament die nächste Hürde nehmen könnte. Allerdings hat er sich – etwa im Gespräch mit uns, im Rahmen der BAGSV – als Fan der Vermutungsregel gezeigt und gilt als ehemaliger Gewerkschafter nicht als wirtschaftsnah. Radtke gehörte bis 2002 der SPD an und war in der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) aktiv. Vor seinem Einzug ins EU-Parlament arbeitete er zehn Jahre als Gewerkschaftssekretär für die IG BCE (vgl. Wikipedia).

Fazit: Die Richtlinie bedroht unser Lebensmodell als Selbstständige!

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Mit der EU-Richtlinie und ihrer Umsetzung in deutsches Recht durch Hubertus Heil, droht vielen von uns das Ende unserer Selbstständigkeit. Es bedarf dringend einer Klarstellung des Anwendungsbereich (welche Auftraggeber fallen unter den Plattformbegriff?) und einer Abschaffung der gesetzlichen Vermutung nebst des fragwürdigen Kriterienkatalogs. Dafür werden wir uns weiter einsetzen, brauchen aber eure Unterstützung!

Die Richtlinie enthält sinnvolle Ansätze für mehr Transparenz in Hinblick auf Algorithmen sowie bessere Arbeitsbedingungen. Auf diese sollte sie fokussiert werden. Ansonsten droht ein wirtschaftlicher Schaden, der weitaus größer ist als die erhofften zusätzlichen Einnahmen für die Sozialversicherung.

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