Tim Cole gilt als “Wanderprediger des deutschen Internet” (Süddeutsche Zeitung). Sein 1999 erschienenes Buch “Erfolgsfaktor Internet” wurde zum Bestseller, weil es erstmals in einer für Manager verständlichen Sprache die Bedeutung des Webs erklärte.
In seinem gerade erschienenen Buch “Digitale Transformation” erklärt er die Digitalisierung und ihre Auswirkungen inklusive Buzzwords wie Arbeiten 4.0, Industrie 4.0, Big Data. Seine These: Die deutsche Wirtschaft verschläft gerade die digitale Zukunft.
Als Internet-Erklärer eingeladen wurde Tim Cole auch von Arbeitsministerin Andrea Nahles zum Auftakt ihres "Arbeiten-4.0"-Dialogs.
VGSD: Was ist Arbeiten 4.0? Welche Änderungen in Bezug auf die Arbeitswelt stehen uns bevor?
Tim Cole: Digitalisierung und Vernetzung werden die Welt der Arbeit in den nächsten Jahren massiv verändern. Neue Formen der digitalen Zusammenarbeit, neue Kollaborationswerkzeuge und flexible Arbeitsorganisationsmodelle versprechen potenziell riesige Verbesserungen in der Arbeitsproduktivität. Sie eröffnen dem einzelnen Mitarbeiter aber auch große Chancen, seine Arbeitsumgebung selbstbestimmt zu gestalten sowie Arbeitszeiten und Arbeitstempo seiner individuellen Veranlagung und seinen Lebensumständen anzupassen.
Frage: Warum sind wir in Deutschland dabei, die digitale Zukunft zu verschlafen?
Antwort: Voraussetzung ist, dass Arbeitgeber bereit sind, diese Veränderungen mitzutragen – und hier liegt in Deutschland vieles noch im Argen. 75 Prozent der Arbeitgeber erwarten nach einer aktuellen Studie des IT-Branchenverbands BITKOM von ihren Mitarbeitern ständige Präsenz, moderne Kollaborationswerkzeuge wie Videokonferenzen und Social Web werden teilweise immer noch mit Misstrauen gesehen. Dieses Zögern birgt das Risiko von Verlust der Wettbewerbsfähigkeit einzelner Unternehmen, aber auch des Wirtschaftsstandorts Deutschland.
Frage: Wer schläft denn? Unternehmer? Politiker?
Antwort: Beide. Flexible Beschäftigungsmodelle und Einbinden von Freien? Videokonferenz? In den meisten deutschen Büros sind das bis heute offenbar noch Fremdwörter. Nur ein Drittel glaubt, dass das Home Office künftig an Bedeutung gewinnen wird. Bei 64 Prozent ist es schlicht „nicht vorgesehen.“ Auf der anderen Seite hat es die Politik versäumt, rechtzeitig Weichen in die digitale Zukunft zu setzen. Die Arbeitsstättenverordnung aus dem Jahr 1977 ist 2004 zum letzten Mal angepasst worden – eine digitale Ewigkeit! Die EU-Bildschirmrichtlinie stammt aus dem Jahr 1990 und ist inzwischen völlig realitätsfremd. Oder glaubst Du, dass die Bahn deshalb alle Sitze im ICE herausreißen wird, um den Abstand zum Vordersitz dem Gesetz anzupassen? Ein Grund, weshalb Arbeitgeber hierzulande so wenig vom Home Office halten: Weil es wahnsinnig teuer wäre, sie so einzurichten, dass sie den geltenden Vorschriften entspricht. Ich halte das allerdings für eine faule Ausrede.
Industrialisierung der Wissensarbeit
Frage: Welche Bedeutung kommt Selbstständigen und Selbstständigkeit bei der digitalen Transformation zu?
Antwort: Dr. Wilhelm Bauer, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Arbeitsorganisation in Stuttgart, hat den Begriff „Work 2.0“ geprägt, hinter der nicht weniger als die Industrialisierung der Wissensarbeit steckt. Sie könnte ähnliche Effizienzvorteile erzeugen wie einst die Einführung der Serienproduktion, beispielsweise in der Autoindustrie. Sie wird auf einem vernetzten Wertschöpfungsprozess beruhen, man könnte auch von einem neuartigen „Wertschöpfungs-Netzwerk“ sprechen: Komplexe Aufgaben werden in einfache Module zerlegt und über das Netzwerk an Personen vergeben, die erstens die dafür notwendige Kompetenz besitzen und zweitens gerade Zeit haben. So werden einzelne Mitarbeiter, Arbeitsgruppen und sogar ganze Organisationseinheiten projekt- oder aufgabenbezogen zu Teams zusammengeführt und bilden damit eine Art virtuelle Organisation auf Zeit. Unternehmen werden für bestimmte Aufgaben bestimmte Team-Module schnell zusammenstellen können, sozusagen eine Cloud-Belegschaft. Und sie werden, auch das eine Anleihe beim Cloud-Computing, nur für das bezahlen, was an Funktion und Leistung abgefragt wurde.
Frage: Arbeitsministerin Nahles hat Dich als Redner zum Kickoff ihres “Arbeiten 4.0-Dialogs” eingeladen. Welche Gestaltungsmöglichkeiten und -aufgaben siehst du in diesem Zusammenhang bei Politikern wie ihr?
Antwort: Sie kann und muss den Saustall des Paragrafendschungels ausmisten! Zum Glück weiß sie das, und ich verspreche mir von ihrer Initiative tatsächlich erste, wenn auch nur zaghafte Schritte in die richtige Richtung. Wobei wir weniger und nicht mehr Regulierung brauchen. Junge Leute kümmern sich ohnehin einen feuchten Kehricht um das, was der Staat vorschreibt: Sie sitzen munter in Starbucks auf Sofas und Sesseln, die jedem Arbeitsrechtler die Haare zu Berge treiben würden. Sie machen dort ihren Job. Und sie machen ihn gut!
Zahl der Selbstständigen wird langfristig stark ansteigen
Frage: Politiker und Gewerkschaften sehen die Gefahr, dass die Solo-Selbstständigen zu schlecht bezahlten “Clickworkern” à la “Uber” degradiert werden. Werden wir zu einem Heer digitaler Tagelöhner oder zu gut bezahlten Wissensarbeitern mit freier Zeiteinteilung?
Antwort: Die Digitale Transformation wird die Zahl der Selbstständigen in Deutschland langfristig stark ansteigen lassen und stellt das Modell Festanstellung tatsächlich in vielen Bereichen in Frage. Ich finde das gut so, denn ein selbstständiger Mensch ist ein selbstbestimmter Mensch. Beutet sie ein Arbeitgeber aus, wird der es schon bald zu spüren bekommen, denn im Zeitalter der Sozialen Medien spricht sich so etwas schnell herum. Ich denke, Facebook & Co. können heute schon einen größeren sozialen und moralischen Druck erzeugen als früher die Gewerkschaften, wenn sie vorm Firmenhauptquartier mit ihren Plakaten aufmarschiert sind. Natürlich sind Staat und Gesellschaft gefordert, Rahmenbedingungen festzulegen und gegen Missstände vorzugehen. Wir müssen aber einfach akzeptieren, dass sich die Zeiten ändern. Das werden auch Mitarbeiter lernen müssen, denn wenn sie mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwortung fordern, dann müssen sie auch lernen, damit verantwortungsvoll umzugehen. Dabei wird es Gewinner und Verlierer geben. Die Aufgabe der Gesellschaft wird es sein, solche Leute aufzufangen und ihnen Hilfsangebote zu machen, bevor sie durch die Ritzen im sozialen Netz fallen.
Frage: Bei der Vorstellung Deines Buches gab es von den eingeladenen Journalisten viel Lob für Deine weitsichtigen Voraussagen, aber auch Kritik an Deinem “fehlenden Pessimismus”. Themen wie Scheinselbstständigkeit, Angriffe auf die Privatsphäre sollten stärker angeprangert werden. Siehst Du die Welt durch eine rosarote Brille oder haben vielmehr wir Deutsche eine zu problemorientierte Sicht der Dinge?
Antwort: Es gibt in Deutschland in der Tat überdurchschnittlich viele Bedenkenträger, und die Angst vor dem Neuen ist hier weiter verbreitet als vielleicht in anderen Ländern. Aber man darf eines nicht vergessen: Die Digitale Transformation hat gerade erst begonnen. Das Internet ist in der deutschen Wirtschschaft keine 20 Jahr alt. Da muss sich noch eine Menge einrenken, und wir haben uns noch gar nicht auf die neuen Regeln geeinigt. Das Gute ist: Wir alle können – und müssen – diese neuen Regeln selbst mitgestalten. Wer das „dem Staat“ oder „denen da oben“ überlässt, ist selber schuld, wenn ihm das Ergebnis am Ende nicht passt.
Gerade erschienen: "Digitale Transformation: Wie digitale Technologien die Zukunft vieler Unternehmen bedrohen und was heute getan werden muss, um zu den Gewinnern des Wandels zu zählen" (Vahlen-Verlag, 24,90 Euro)
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