Die EU diskutiert über Kriterien für Scheinselbstständigkeit. Da horchen ältere Selbstständige in Deutschland auf: Das gab es doch schon einmal. 1999 sollte ein Gesetz mit einem Kriterienkatalog die Scheinselbstständigkeit eindämmen. Nach nur einem Jahr musste es geändert werden, nach vier Jahren war es ganz weg. Droht nun ein Déjà-vu auf EU-Ebene?
Eins vorneweg: Bis eine EU-Richtlinie zur Plattformarbeit kommt, die womöglich alle Selbstständigen einschränkt, wird noch einige Zeit vergehen. Denn um das Gesetzesvorhaben wird hart gerungen. Einen Entwurf der Kommission gibt es seit Dezember 2021, das Parlament einigte sich im Dezember 2022 auf einen Vorschlag, und der Ministerrat sucht noch nach seinem Kompromissentwurf. Wenn dieser gefunden ist, geht es in die Trilog-Verhandlungen mit allen drei Institutionen. Diese können sich über Monate, in schwierigen Fällen auch über Jahre hinziehen.
Nach einem Jahr überarbeitet, nach vier abgeschafft
Es bleibt also Zeit, um einen Blick zurück zu werfen. Die EU-Richtlinie zur Plattformarbeit soll den "Uberismus" eindämmen – verhindern, dass bei großen, oft international tätigen Plattformarbeitgebern wie Essenslieferanten, Paket- oder Fahrdiensten Menschen in einem Beschäftigungsverhältnis arbeiten, das de facto einer abhängigen Tätigkeit entspricht, aber als Selbstständigkeit deklariert wird. Diese scheinbar Selbstständigen sollen in den Genuss von Arbeitnehmerrechten kommen, und dafür hat die EU-Kommission in ihrem Entwurf einen Kriterienkatalog vorgesehen. Wenn zwei von fünf Kriterien erfüllt sind, soll von einem Arbeitsverhältnis ausgegangen werden.
Scheinbare Selbstständigkeit, Kriterienkatalog, Vermutung eines Arbeitsverhältnisses? Da klingelt es bei älteren Selbstständigen. Im Kampf gegen Scheinselbstständigkeit führte die rot-grüne Bundesregierung 1999 einen neuen Absatz im Sozialgesetzbuch (SGB) ein, der genau so funktionierte. Nach nur einem Jahr musste der Absatz überarbeitet werden, nach vier Jahren wurde er wieder abgeschafft. Was war da schiefgelaufen? Und was heißt das für die Pläne der EU heute?
"Wahnsinnige Verunsicherung"
"Das war eine wahnsinnige Verunsicherung damals", erinnert sich Eckhard Döpfer, Hauptgeschäftsführer beim Handelsvertreter-Verband CDH, an das Jahr 1999. Er sei gerade seit anderthalb Jahren beim CDH gewesen und habe gefühlt das ganze Jahr am Telefon verbracht, um verunsicherte Mitglieder zu beraten. Der Absatz 4 des Paragrafen 7 im SGB IV hatte einen Katalog von vier Kriterien eingeführt. Waren zwei der vier Kriterien erfüllt, wurde vermutet, dass die Person abhängig beschäftigt ist. Die vier Kriterien waren:
- Keine Angestellten
- Im Wesentlichen nur ein Auftraggeber ("5/6-Regelung")
- Weisungsgebundenheit
- Keine erkennbare unternehmerische Tätigkeit
Aufträge bei Selbstständigen blieben aus
Eine Person galt also automatisch als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer, wenn zwei der vier Kriterien erfüllt waren. Dabei war gerade das vierte Kriterium, "nicht aufgrund unternehmerischer Tätigkeit am Markt auftreten", ein extrem auslegungsbedürftiges. Wer konnte dies auf einen Blick zweifelsfrei erkennen? Auftraggeber fürchteten hohe Nachzahlungen in die Sozialversicherung, wenn bei ihnen eine scheinselbstständig tätige Person entdeckt würde. Dies bekamen Selbstständige zu spüren: Aufträge blieben aus.
Innerhalb kürzester Zeit wurde die Kritik an der Regelung so vehement, dass das Gesetz überarbeitet werden musste. Dazu wurde eine Regierungskommission unter Vorsitz des damaligen Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, Thomas Dieterich, eingesetzt. Diese "Dieterich-Kommission" überarbeitete den Absatz: Aus vier Kriterien wurden fünf, und für das Vorliegen der Scheinselbstständigkeit mussten drei erfüllt sein.
Arbeitnehmerrechte für Plattformbeschäftigte
Mit in der Kommission saß damals Karl-Jürgen Bieback, heute emeritierter Professor für Sozialrecht an der Universität Hamburg. Er möchte die Arbeit von damals nicht in Bausch und Bogen verdammen: "Ein Kriterienkatalog bringt durchaus Rechtssicherheit, wenn er klar und präzise gefasst ist", sagt Bieback und weist auf einen wichtigen Unterschied hin: Die deutsche Gesetzgebung bewegte sich damals im Sozialrecht, die EU agiert im Arbeitsrecht. Es geht darum, den für die Plattform Tätigen Arbeitnehmerrechte wie Kündigungsschutz, Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu sichern. Für Deutschland dürfte die Einordnung aber auch sozialrechtliche Konsequenzen haben.
Auch der erneuerte Katalog von 1999 hielt sich nicht lange: Er wurde 2003 abgeschafft, und der umstrittene Absatz 4 besagte von da an nur noch, dass Personen, die Gründungszuschuss beantragt haben, für die Dauer ihrer Förderung als Selbstständige beurteilt werden. 2009 wurde der Absatz vollständig gestrichen.
"In Deutschland alles da, um Plattformarbeit zu regulieren"
Für die Entscheidung, ob eine Person selbstständig oder abhängig beschäftigt ist, zählt seitdem nur noch die Einzelfallentscheidung. Die Kriterien wurden (zusammen mit vielen weiteren) zu Anhaltspunkten, und müssen alle gemeinsam betrachtet und abgewogen werden. Also eine "Einzelfallentscheidung unter Gesamtwürdigung aller Umstände", wie es im Verwaltungsdeutsch heißt. Es wird also nicht über einen Kamm geschoren, sondern jeder Fall einzeln betrachtet – in den Augen von Eckhard Döpfer ein funktionierendes Instrument. "In Deutschland wäre alles da, um Plattformarbeit zu regulieren", sagt er.
Kommt es zu einem Déjà-vu des Scheiterns?
Mit der Richtlinie zur Plattformarbeit möchte sich die EU jedoch genau aus der kleinteiligen Einzelfallentscheidung befreien: Es soll ein Instrument entstehen, um vereinfacht über eine Vielzahl von Fällen entscheiden zu können – womöglich mit Mitteln, an denen die deutsche Gesetzgebung vor einem knappen Vierteljahrhundert scheiterte. "Wenn es schon in einem Nationalstaat nicht funktioniert, wie soll es dann in einem Staatenbund aus vielen Staaten funktionieren?", warnt Döpfer. Sozialrechtler Bieback sieht die Schwierigkeiten des "wahnsinnigen Projekts", wie er es nennt, möchte es aber nicht von vorneherein für chancenlos erklären: "Eine EU-Richtlinie zur Plattformarbeit kann funktionieren, wenn die Definitionen gut gemacht werden", sagt er.
Vielleicht blicken ja manche Beteiligten auf das mahnende Beispiel aus Deutschland, wenn sie nun in den anstehenden Trilog gehen. Damit es nicht zu einem Déjà-vu des Scheiterns kommt.
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