Wenn Unternehmer und ihre Familien in finanzielle Bedrängnis geraten, können sie einen Antrag auf Arbeitslosengeld II stellen. Eine freiwillige Mitgliedschaft in der Arbeitslosenversicherung ist dafür nicht erforderlich. Die Anfang 2008 in Kraft getretene ALG-II-Verordnung errichtet jedoch neue bürokratische Hürden: Während bei der Gewinnermittlung bisher die steuerlichen Vorschriften galten, verlangen die ARGEs neuerdings eine ganz spezielle Arme-Leute-Buchhaltung.
"Hilfebedürftig" im Sinne des Paragrafen 9 SGB II
http://bundesrecht.juris.de/sgb_2/__9.html
können auch Selbstständige und die mit ihnen in "Bedarfsgemeinschaft" lebenden Menschen werden. Vorausgesetzt...
- sie verfügen über kein anrechenbares Vermögen,
- können nicht von Angehörigen unterstützt werden und
- haben keine Ansprüche auf Sozialleistungen,
dürfen sie auf Arbeitslosengeld II hoffen. Von der Mitgliedschaft in der freiwilligen Arbeitslosenversicherung für Selbständige ZZZ ist die Grundsicherung für erwerbsfähige Hilfebedürftige nicht abhängig. Es muss auch nicht nachgewiesen werden, dass keine Aufträge mehr vorliegen. Eine wöchentliche Arbeitszeitgrenze - wie die Arbeitslosengeld I bekannten 15 Wochenstunden - gibt es ebenfalls nicht.
Erwerbstätigkeit neben der Arbeitslosigkeit wird von Amts wegen sehr gern gesehen - mittlerweile auch in selbstständiger Form. Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit können sogar mit Zuschüssen gefördert werden: Die Konditionen des sogenannten Einstiegsgelds ZZZ sind zwar deutlich schlechter als die des Gründungszuschusses. Zudem gibt es auf den ALG-II-Zuschlag keinen Rechtsanspruch. Grundsätzlich sind "Hartz IV"-Leistungen aber auch für Unternehmer gedacht. Eine Übersicht über die allgemeinen Vermögens- und Verdienstgrenzen sowie die möglichen Regelleistungen für Einzelpersonen und Bedarfsgemeinschaften findest du auf unserer Überblickseite.
Streitpunkt Gewinnermittlung
Voraussetzung für den Nachweis der Hilfebedürftigkeit ist jedoch, dass Einkünfte aus freiberuflichen oder gewerblichen Tätigkeiten regelmäßig gegenüber der Arbeitsagentur, dem Sozialamt oder der ARGE offengelegt werden. Dabei galten bis Ende 2007 im Großen und Ganzen die steuerlichen Vorschriften.
Da die Steuergesetze Unternehmern jedoch beträchtliche Gestaltungsspielräume lassen (Stichwort: Abschreibungen) und grundsätzlich weder eine Prüfung der betrieblichen Notwendigkeit noch der Angemessenheit vorsehen, mussten die Fallmanager in der Vergangenheit vielfach zähneknirschend Bewilligungsbescheide verschicken, obwohl in ihren Augen Zweifel an der Hilfebedürftigkeit bestanden. Hinzu kam, dass Antragsteller durch geschickte Verteilung von Einnahmen und Ausgaben in gewissen Grenzen Einfluss auf ihre zeitweilige Hilfebedürftigkeit nehmen konnten.
Strengere Prüfung der Hilfebedürftigkeit
Dem hat die seit dem 1.1.2008 geltende neue ALG-II-Verordnung einen Riegel vorgelegt: In deren Paragraf 3
http://bundesrecht.juris.de/algiiv_2008/__3.html
ist geregelt, wie das "Einkommen aus selbständiger Arbeit, Gewerbebetrieb oder Land- und Forstwirtschaft" zu berechnen ist:
- Während selbstständige Einkünfte in der Vergangenheit monatlich bis vierteljährlich mit dem zuständigen Amt abgerechnet wurden, gilt künftig generell der sechsmonatige Bewilligungszeitraum als Abrechnungszeitraum. Dabei ist das Gesamteinkommen rechnerisch gleichmäßig auf alle Monate zu verteilen, in denen die Tätigkeit ausgeübt wurde. Auf diese Weise werden Monate des Wohlstands und Monate des Mangels nivelliert: Rechnerisch entsteht auf diese Weise weniger Hilfebedürftigkeit.
- Die steuerrechtlichen Vorschriften werden dabei ausdrücklich außer Kraft gesetzt:"Zur Berechnung des Einkommens sind von den Betriebseinnahmen die im Bewilligungszeitraum tatsächlich geleisteten notwendigen Ausgaben [...] ohne Rücksicht auf steuerrechtliche Vorschriften abzusetzen."Das bezieht sich nicht nur auf das Verfahren der Gewinnermittlung, sondern auch auf Pauschalen. Beispiel: Statt der (ohnehin mageren) 30-Cent-Kilometerpauschale, die das Finanzamt bei Benutzung des Privatwagens für betriebliche Fahrten akzeptiert, dürfen selbstständige Hartz-IV-Empfänger gegenüber dem Arbeitsamt gerade mal 10 Cent als Betriebsausgabe geltend machen
- Endgültig zu Unternehmern zweiter Klasse werden selbständige ALG-II-Empfänger durch Absatz 3 des Gewinnermittlungs-Paragrafen: Der verbietet nicht nur den Abzug "vermeidbarer" Betriebsausgaben, sondern verlangt noch dazu, dass die Ausgaben"den Lebensumständen während des Bezuges der Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende entsprechen."Mit anderen Worten: Selbstständige müssen bei jedem Einkauf ganz genau überlegen, ob ihr Fallmanager die betreffende Ausgabe später akzeptieren wird. Dass Behördenmitarbeiter ohne jede betriebswirtschaftliche Qualifikation im Einzelfall zutreffend beurteilen können, was betrieblich notwendig, unvermeidbar und angemessen ist, muss bezweifelt werden.
- Das Gesetz geht sogar noch einen Schritt weiter: Die Fallmanager sollen nach dem Willen des Gesetzgebers sogar prüfen, ob die Höhe der Einnahmen realistisch ist und ob Einnahmen und Ausgaben in einem auffälligen Missverhältnis stehen. Wenn nicht, haben sie freie Hand, sowohl die Einnahmen als auch der ermittelte Gewinn nach oben zu korrigieren.
Dass obendrein nur solche Betriebsausgaben anerkannt werden, die im betreffenden Bewilligungszeitraum auch tatsächlich geflossen sind (und nicht etwa Abschreibungen oder gar Ansparabschreibungen bzw. Investitionsabzugsbeträge), ist nur konsequent.
Hinter dieser Bestimmung versteckt sich sogar ein kleiner Vorteil gegenüber dem Steuerrecht: Vorausgesetzt, der Fallmanager hat die gewünschte Anschaffung als unvermeidbar, notwendig und angemessen abgesegnet, mindert die Ausgabe den Gewinn in voller Höhe. Ergibt sich dadurch unterm Strich ein Verlust, darf der aber nicht mehr in Form eines Verlustvortrags in folgende Bewilligungszeiträume übertragen werden.
Rückwirkende Korrektur
Besonders heikel am Sonderstatus für Hartz-IV-Selbstständige: ALG-II-Zahlungen stehen prinzipiell unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Die endgültige Höhe der Leistungen wird erst nach Ende des Bewilligungszeitraums auf Grundlage der Zweitbuchführung festgestellt. Jede nach oben korrigierte Einnahme und jede nicht anerkannte oder gekürzte Ausgabe führt rückwirkender Korrektur der Regelleistung. Überzahlungen der Vergangenheit werden mit künftigen Ansprüchen verrechnet. Unter Umständen drohen sogar Rückforderungen.
Unser Kommentar:
Von Sozialbetrügern, Schildbürgern und Sonntagsrednern
Die neue ALG-II-Verordnung stellt hilfsbedürftige Selbstständige pauschal unter den Generalverdacht des Sozialbetrugs. Verlässliche Kriterien, anhand derer die Mitarbeiter von Sozialbehörden die neue Arme-Leute-Buchhaltung prüfen sollen, fehlen völlig. Das Ersetzen der komplizierten, aber immerhin halbwegs praxiserprobten Steuerregelungen durch spezielle Gewinnermittlungsvorschriften für selbständige Hartz-IV-Empfänger ist ein Schildbürgerstreich.
Betroffenen Antragstellern bleibt keine andere Wahl, als sich bei jeder größeren Ausgabe grünes Licht von ihrem Fallmanager geben zu lassen. Mit viel Glück lässt sich auf diese Weise ja eine für beide Seiten erträgliche, pragmatische Übereinkunft finden. Im Normalfall wird die fragwürdige Neuregelung jedoch zu ständigem Ärger um die zutreffende Auslegung der völlig lebensfernen Vorschriften führen. "Kultur der Selbständigkeit"? "Bürokratieabbau"? Fehlanzeige! Ein Gesetz ist nun einmal keine Sonntagsrede. Was zu beweisen war.
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