Ob Kernkraft oder Stuttgart 21 – die Industrie- und Handelskammer (IHK) in Stuttgart hat zu wichtigen Themen Position bezogen, obwohl viele ihrer Mitglieder völlig anders darüber denken. Geht gar nicht, urteilten Kritiker aus der Region und schlossen sich zum sogenannten Kaktus-Bündnis zusammen, um sich in die IHK-Vollversammlung wählen zu lassen und als Abgeordnete künftig mitreden und mitentscheiden zu können. Mit Erfolg: Das Bündnis erhielt vergangenen Herbst auf Anhieb 22 von 100 Sitzen. Im Rahmen der monatlichen Telefonkonferenz des VGSD e.V. haben wir die Kaktus-Rebellen Clemens Morlok und Thomas Albrecht zu den Erfahrungen als neu gewählte Vollversammlungs-Mitglieder befragt.
VGSD: Herr Morlok, Herr Albrecht, warum haben Sie das Kaktus-Bündnis gegründet?
Clemens Morlok: Auslöser war die Position der IHK zu Stuttgart 21 – für den Bau des Bahnhofs. Ihre Aussagen machte die Kammer im Namen der gesamten Wirtschaft der Region, doch dadurch fühlten sich viele Unternehmer falsch repräsentiert. Überhaupt, wenn die IHK etwas sagt, steht in der Presse: „Die Wirtschaft sagt“. Journalisten setzen die IHK und die Wirtschaft gleich. Das ist aber falsch, ich bin auch Teil der Wirtschaft und zugleich IHK-Mitglied – und vertrete oft gänzlich andere Auffassungen als die, von denen ich in der Zeitung lese. Was soll ich also tun? Es ist nötig, mich zur Wahl zu stellen und mitzumachen, wenn ich daran was ändern will.
Thomas Albrecht: Das Kaktus-Bündnis ist ein lockerer Zusammenschluss, keine Partei und kein Verein, wir sind Selbstständige und kleinere Unternehmer, wir haben uns vor allem aus einer erklärten S21-Gegnerschaft formiert.
VGSD: Gibt es neben dem Protest gegen S21 weitere Ziele, die das Bündnis vertritt?
Albrecht: Ein Hauptziel ist, die Zwangsmitgliedschaft in der IHK abzuschaffen. Prinzipiell sehe ich zwei Lösungen, wie es weitergehen kann: a) Die IHK pflegt eine gewisse Zurückhaltung und spricht damit rechtmäßig für alle Unternehmer oder b) sie ignoriert weiterhin Gegenpositionen, dann muss langfristig der Austritt aus der IHK möglich sein.
Morlok: Weitere Ziele sind, mehr Transparenz innerhalb der IHK zu schaffen und mehr Diskussion. In der Vergangenheit wurde häufig alles einstimmig beschlossen und abgenickt. Wir werden wesentlich genauer nachfragen, woher Beschlussvorlagen kommen, und die lebendige Diskussion mit den anderen Mitgliedern suchen.
VGSD: Was haben Sie als Neu-Mitglieder auf der ersten Vollversammlung erlebt?
Morlok: Wir wurden freundlich empfangen, hatten nette Gespräche – aber erreicht haben wir nichts. Keiner von uns wurde ins Präsidium gewählt, denn dafür hätten wir eine Stimmenmehrheit gebraucht. Dafür reichten unsere 22 Abgeordneten nicht.
Albrecht: Wir hätten erwartet, dass man konstruktiv mit uns und unserem Wahlerfolg umgeht und uns in die Arbeit einbindet. Ich bin als einziges Mitglied des Kaktus-Bündnisses Wiederholungstäter und sitze seit fünf Jahren in der Vollversammlung – bei Abstimmungen hatte ich oft die einzige Gegenstimme. Ich bin der Abgeordnete mit den meisten Wortmeldungen, Anträgen und zugleich den meisten abgelehnten Anträgen. Mein Eindruck ist, dass die meisten Vorlagen des Präsidiums einfach abgenickt werden und viele das Amt mit möglichst geringem Zeitaufwand erledigen.
VGSD: Ihre Prognose: Was wird sich durch das Kaktus-Bündnis ändern?
Albrecht: Es wird uns gehen wie den Grünen. Wir stellen Anträge, und sie werden abgelehnt. Langfristig wird der Vorstoß dazu führen, dass darüber nachgedacht wird und er zur Meinungsbildung der anderen Mitglieder beiträgt. Wir hoffen, dass wir die Positionen der traditionellen IHK abmildern können. Es kann allerdings auch passieren, dass wir eine Minderheit bleiben und alles abgelehnt wird, was von uns kommt, und gegen unseren Willen alles durchgedrückt wird, was die Mehrheit abnickt.
Morlok: Doch allein die Tatsache, dass wir Aufmerksamkeit gewinnen, wenn nicht alles einstimmig oder mit nur wenigen Gegenstimmen abgenickt wird, ist schon ein Erfolg.
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