(Update vom 20.03.2018) Eine Gelegenheit zum Dialog mit führenden Vertretern des deutschen Handwerks bot sich uns am Mittwoch letzter Woche:
Der IKK e.V. als Spitzenverband der Innungskrankenkassen (5,5 Millionen Versicherte!) veranstaltete zum 18. Mal in seinem zehnjährigen Bestehen die "Plattform Gesundheit" und lud zu Vorträgen, Podiumsdiskussion und Networking in die Berliner Kalkscheune.
Gelegenheit zum Dialog angesichts ganz unterschiedlicher Meinungen
VGSD-Vorstand Andreas Lutz war einer von vier Diskussionsteilnehmern auf dem Podium – um die Gegenposition dessen zu repräsentieren, von was die Veranstalter eigentlich überzeugt sind:
Die Handwerksverbände zählen zu den einflussreichsten Gegnern von Senkungen der KV-Mindestbeiträge (und sind auch beim Thema Scheinselbstständigkeit ganz anderer Meinung als wir).
Um so wichtiger ist, dass es auf dieser Veranstaltung zu einem Dialog kam. Sie bot die Gelegenheit, die Position der Handwerksverbände besser zu verstehen – und dieser Argumentation zielgerichtet Fakten und eigene Argumente gegenüber zu stellen und auch die eine oder andere Vorstellung von Selbstständigen (und ihrem Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung) ein wenig in Frage zu stellen.
Eigens produziertes Video erklärt Argumentation
Eröffnet wurde die Veranstaltung mit einem eigens zu diesem Anlass erstellten 5-minütigen Kurzfilm, der die Position und Argumente der IKK e.V. zusammenfasst. Der Vorstand der IKK e.V. ist paritätisch mit Vertretern von Arbeitgebern und -nehmern besetzt:
Wir fassen die Argumentation des Videos im Folgenden in sechs Punkten zusammen:
- Die Zahl der Selbstständigen und insbesondere der Anteil der Solo-Selbstständigen sei von 2002 bis 2012 stark angestiegen. Er betrug 2012 57 Prozent. Dabei spielte die staatliche Förderung durch Ich-AGs eine entscheidende Rolle.
- Selbstständige verfügen über das Privileg, unabhängig vom Einkommen zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung zu wählen und keine Rentenversicherung abschließen zu müssen – mit Ausnahme u.a. der Handwerker in meisterpflichtigen Gewerken.
- Von der Einbeziehung in die GKV machten vor allem die Solo-Selbstständigen Gebrauch. Sie machen 71 Prozent der freiwillig versicherten Selbstständigen aus und hätten laut Video ein Durchschnittseinkommen von nur 787 Euro. (Update 26.03.2018: Das Video wurde bei 2:30 Minute auf unseren Hinweis von der IKK e.V. korrigiert, jetzt heißt es im Video "Unberücksichtigt bleibt, dass das Monatseinkommen immerhin eines Quintils der GKV-Versicherten lediglich 787 Euro beträgt." Vgl. dazu unten).
- Die hohen Mindestbeiträge sind ein wichtiger Grund für die Beitragsrückstände von zuletzt sieben Milliarden Euro, von denen laut Medienberichten ein erheblicher Teil auf Selbstständige entfalle. Der IKK e.V. weist darauf hin, dass ein erheblicher Anteil dieser Schulden aufdie obligatorische Anschlussversicherung (OAV) entfällt, also auf Versicherte, deren Beschäftigungsverhältnis endet, die dann (z.B. aufgrund der Rückkehr ins Heimatland) keine Beiträge mehr bezahlen, sich aber auch nicht abmelden. 15 Prozent der GKV-Versicherten Selbstständigen (rund 200.000) verdienen zwischen ca. 1.500 und 2.300 Euro und nehmen die Härtefallregelung in Anspruch.
- Soll die finanzielle Überforderung der Selbstständigen durch niedrigere Mindestbeiträge reduziert werden? Sollen die oben erwähnten Privilegien aufgehoben werden? Welche Rolle spielt dabei die ebenfalls geplante Altersvorsorgepflicht?
- Die von der GroKo beschlossene Absenkung der Mindestbemessungsgröße auf 1.150 Euro und erst recht die von FDP / SPD / Linken - und auch vom VGSD - geforderten Absenkung auf 450 Euro seien fragwürdig, weil das Einkommen dann unterhalb des Mindestlohns läge und ein falsches Signal in Richtung Subventionierung prekärer Selbstständigkeit gesendet würde.
Wir sind anderer Meinung und hatten teilweise auch andere Zahlen
In der Podiumsdiskussion hat Andreas natürlich nicht zu jeder Aussage des Videos Stellung genommen, sondern die Fragen des Moderators beantwortet und auf Aussagen anderer Diskussionsteilnehmer reagiert.
Das Video fasst die Argumentation der Handwerksvertreter an diesem Abend aber so gut zusammen, dass wir im Rahmen dieses Beitrags dazu direkt Stellung nehmen wollen:
- Es ist richtig, dass die Zahl der Solo-Selbstständigen im letzten Jahrzehnt deutlich angestiegen ist, allerdings ist die Zahl der Selbstständigen seit 2012 rückläufig. Für den Anstieg gibt es vielfältige Gründe und er ist in den meisten entwickelten Ländern zu beobachten. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Trend zur Wissensgesellschaft.
- In der Tat handelt es sich bei der freien Wahl zwischen privater und gesetzlicher Krankenkasse um ein Privileg. Wenn wir es richtig verstanden haben, will der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) dieses Privileg nicht gefährden. Es ist ihm zudem nachvollziehbarerweise ein Dorn im Auge, dass Handwerker in meisterpflichtigen Berufszweigen in die Rentenversicherung einzahlen müssen, in nicht-meisterpflichtigen Berufen dagegen keine Rentenversicherungspflicht besteht. Diese Ungleichbehandlung wird durch die im Koalitionsvertrag beschlossene Altersvorsorgepflicht beseitigt. Die meisterpflichtigen Handwerker würden von der beschlossenen Opt-out-Lösung (wenn sie attraktive Alternativen zur DRV zulässt) insoweit profitieren, als diese für sie mehr Wahlfreiheit bedeutet.
- Es ist richtig, dass 71 Prozent der GKV-versicherten Selbstständigen keine Mitarbeiter haben. Das in der ursprünglichen Version des Videos angegebene Durchschnittseinkommen von 787 Euro war falsch. Auf unseren Hinweis hat der IKK e.V umgehend das Video korrigiert und weist darauf hin, dass das erste Quintil, also das Fünftel der GKV-versicherten Selbstständigen mit dem niedrigsten Einkommen, im Schnitt lediglich 787 Euro verdient. Wir danken der IKK e.V. für die schnelle Richtigstellung und weisen darauf hin, dass die GKV-versicherten Selbstständigen im Durchschnitt im Jahr 2012 2.867 Euro verdienten und darauf Beiträge bezahlten. Durch das Herausgreifen von Teilgruppen wie dem untersten Quintil entsteht leicht der Eindruck einer Prekarität, die in dieser Form nicht vorhanden ist.
- Es ist richtig, dass die hohen Mindestbeiträge insbesondere bei Teilzeit-Selbstständigen zu einer finanziellen Überforderung und damit zu Beitragsschulden führen. Bei der Härtefallregelung müssen 200.000 Selbstständige ein bürokratisches Verfahren durchlaufen und Bedürftigkeit nachweisen, nur um einkommensgerechte Beiträge zahlen zu dürfen. Tatsächlich hat der ZDH ja aus diesem Grund auch selbst eine Absenkung der Mindestbeiträge auf ca. 1.500 Euro gefordert.
- Ganz klar: Unseres Erachtens müssen die Mindestbeiträge gesenkt werden und zwar deutlich weiter als die von der Großen Koalition vorgesehenen 1.150 Euro. Sonst kommt es bei Einführung der Altersvorsorgepflicht zu einer finanziellen Überforderung von (Teilzeit-) Selbstständigen mit einem niedrigeren Einkommen als 1.150 Euro. Wenn diese in der Konsequenz ihre Selbstständigkeit aufgeben würden, würden die Beitragseinnahmen für die Krankenversicherungen sinken, nicht steigen.
- Die an dieser Stelle des Videos beklagte Wettbewerbsverzerrung durch Selbstständige, die die Vorsorgeaufwendungen nicht einkalkulieren und dadurch einen unfairen Wettbewerbsvorteil haben, wird durch die Einführung einer Altersvorsorgepflicht beseitigt. Unterstellt wird implizit auch, dass Solo-Selbstständige mit niedrigerem Einkommen schwarzarbeiten würden, ihre tatsächlichen Einnahmen also nicht versteuern / verbeitragen. Die resultierende Forderung: Beiträge müssten auf den Mindestlohn erhoben werden, der bei einer Vollzeittätigkeit anfällt, was ungefähr 1.500 Euro / Monat entsprechen würde. Diese Forderung verkennt aber, welch großen Anteil Teilzeit-Selbstständige ausmachen. Zum anderen unterstellt sie Selbstständigen, die weniger als den Mindestlohn verdienen, dass sie schwarzarbeiten würden. Dass bargeldintensive und für Schwarzarbeit anfällige Branchen wie Handwerk, aber auch Gastronomie in unserer Wirtschaft eher in der Minderheit sind, wird verkannt. Unseres Erachtens sollten sich unsere gemeinsamen Anstrengungen darauf konzentrieren, sicherzustellen, dass tatsächlich alle Selbstständigen (aller)mindestens Honorare in Höhe des Mindestlohns erzielen, damit sie dann darauf Beiträge in entsprechender Höhe leisten können.
Die Redebeiträge im Einzelnen
In aller Kürze wollen wir kurz auf die verschiedenen Redebeiträge eingehen, die der Podiumsdiskussion vorausgingen und sich in unterschiedlicher Form auf die oben bereits dargestellte Argumentation bezogen:
- Wie alle Krankenversicherungen ist auch die IKKeV paritätisch mit Vertretern von Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzt. Hans-Peter Wollseifer ist Vorstandsvorsitzender des IKKeV von Arbeitgeberseite und zugleich Präsident der Handwerkskammer zu Köln sowie des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks. Er war Gastgeber und begrüßte die Teilnehmer.
- Annette Widmann-Mauz, vor kurzem noch als Gesundheitsministerin gehandelt, ist nun nicht mehr im Gesundheitsministerium und hat ihre Teilnahme abgesagt. Ilka Wölfle, Direktorin der Deutsche Sozialversicherung Europavertretung (DSV Europa), sprang für sie ein und berichtete über mehrere Initiativen in Bezug auf Selbstständige auf europäischer Ebene. Auch wir beobachten diese Aktivitäten in einem Bereich, für den der EU eigentlich die inhaltliche Zuständigkeit fehlt. (Die DSV Europa ist die gemeinsame Interessenvertretung der gesetzlichen Sozialversicherung in Brüssel.)
- Prof. Stefan Sell von der Hochschule Koblenz hielt einen fundierten, aber auch unterhaltsamen Vortrag, der beim Publikum gut ankam. Er relativierte dabei manche im Video getroffene Aussage, etwa was die "stetig steigende Zahl der Solo-Selbstständigen" betrifft.
- Holger Schwannecke erklärte die Position des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, dessen Generalsekretär er ist.
- Jürgen Hohnl, Geschäftsführer des IKKeV zog ein kurzes Fazit und eröffnete den informellen Teil der Veranstaltung, die noch reichlich Gelegenheit für Gespräche bot.
In der Galerie unten findet ihr ausgewählte Fotos mit VGSD-Bezug. Neben Andreas waren mindestens drei weitere VGSD-Mitglieder gekommen. (Danke für eure Unterstützung!) Nicht abgebildet ist leider VGSD-Mitglied Ralf Lemster und Vizepräsident des BDÜ. Er war ebenfalls extra zu der Veranstaltung angereist. Auf Flickr hat der IKKeV weitere Fotos veröffentlicht.
Weitere Quellen
- Pressemitteilung der IKK e.V. vom 15.03.2018: "Experten: Soziale Absicherung von Selbstständigen wichtig – aber nicht zu Lasten Dritter"
Veranstaltungsankündigung: VGSD auf Podium des IKK-Spitzenverbandes zum Thema KV-Mindestbeiträge
(Beitrag vom 08.02.2018) Annette Widmann-Mauz, die wahrscheinliche künftige Gesundheitsministerin und jetzige parlamentarische Staatssekretärin hat zugesagt, mit einer Rede am 14. März 2018 die Veranstaltung "Selbstständige: Zwischen Eigenverantwortung und Solidarität" zu eröffnen.
Auf Einladung des IKK e.V., der gemeinsamen Interessenvertretung der Innungskrankenkassen auf Bundesebene, diskutiert anschließend VGSD-Vorstand Andreas Lutz mit Grid Genster (Bereichsleiterin Gesundheitspolitik ver.di), Reinhard Richter (stv. Hauptgeschäftsführer Metallgewerbeverband Nord und IKK-Verwaltungsrat) sowie Maria Klein-Schmeink (MdB, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen). Moderiert wird die Diskussion von Dirk-Oliver Heckmann vom Deutschlandradio.
VGSD-Kritiker Professor Stefan Sell hält Vortrag
Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz hält einen einführenden Vortrag zum Thema "Selbstverwaltung zwischen Anspruch und Wirklichkeit". Sell hat sich in der Vergangenheit auf seiner Website kritisch über das Engagement des VGSD für Rechtssicherheit geäußert.
Der Generalsekretär des Deutschen Handwerks (ZDH), Holger Schwannecke, spricht über "Zukunftsweisende soziale Sicherung für Selbstständige im Handwerk". Die meisten Versicherten der IKK, also der Innungskrankenkassen, sind historisch bedingt Handwerker, auch wenn inzwischen jede IKK für alle Versicherten geöffnet ist. Entstanden sind die IKKs nämlich ursprünglich aus Bruderschaften von Handwerksgesellen.
IKK und ZDH hatten sich für eine Absenkung der Mindestbeiträge ausgesprochen
Begrüßung bzw. Fazit übernehmen der Vorstandsvoritzende des IKK e.V., Hans Peter Wollseifer und der Geschäftsführer Jürgen Hohnl.
In der Diskussion über die Absenkung der Mindestbeiträge hatte sich der IKK e.V. für eine Reduktion auf 1.487,50 Euro ausgesprochen (Stimmen). Auch der ZDH hatte sich für eine Absenkung der Mindestbeiträge ausgesprochen.
Andreas freut sich darauf, bei dieser Gelegenheit mit Fachpolitikern und Experten zum Thema faire Beiträge, diskutieren zu dürfen. Er wird für die Notwendigkeit der beschlossenen Senkung und für den weiteren Abbau von Schlechterbehandlungen argumentieren.
Wir laden alle VGSD-Mitglieder herzlich zu dieser öffentlichen Veranstaltung ein. Die Anmeldng ist auch per E-Mail möglich: Flyer mit Anmeldeformular
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