Vor gut zwei Wochen hatten wir den damals gerade bekannt gewordenen Referentenentwurf zum GKV-Versichertenentlastungsgesetz ("Gesetz zur Beitragsentlastung der Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung") unter die Lupe genommen.
Ihm kommt für viele Selbstständige große Bedeutung zu, denn er sieht zum 1.1.2019 eine Halbierung der Mindestbemessungsgrenzen zur Kranken- und Pflegeversicherung von 2.284 auf 1.142 Euro vor – und damit auch eine Halbierung der Mindestbeiträge von rund 420 auf 210 Euro.
Teilnehmer von Verbände-Seite
Gestern Mittag fand im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) von 14 bis 17 Uhr die Erörterung des Entwurfs mit ausgewählten Verbänden ("Verbändeanhörung") statt. Ich (Andreas Lutz) war als VGSD-Vorstand sowie als Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbstständigenverbände (bagsv) eingeladen.
Ebenfalls anwesend waren Jochen Clausnitzer vom BDD sowie Ralf Lemster vom BDÜ. Mit diesen beiden Verbänden hatten wir in den letzten zwölf Monaten eng zusammengearbeitet, um eine Absenkung der Mindestbeiträge zu erreichen. Ebenfalls vertreten wurden die Interessen der Selbstständigen auch vom Bundesverband Kindertagespflege (BVKTP) sowie von dem Selbstständigenreferat der Gewerkschaft ver.di.
In der Mehrheit waren jedoch große Verbände und Institutionen geladen: Die Spitzenverbände der Krankenkassen, das Bundesversicherungsamt, Städte und Landkreise, Arbeitgeberverbände (BDA), Gewerkschaften sowie Verbraucher- und Sozialverbände.
Teilnehmer von Ministeriums-Seite
Moderiert wurde die Erörterung von Dr. Orlowski und Herrn Becker. Sie leiten die Abteilung 2 des BMG ("Gesundheitsversorgung, Krankenversicherung") bzw. die Unterabteilung 22 ("Krankenversicherung").
Aus Abteilung 2 waren die Referatsleiter/innen Brakel, Dr. Süß und Dr. Müller anwesend, außerdem Dr. Renner vom Referat "Grundsatzfragen der Gesundheitspolitik" der Leitungsabteilung, das auch für statistische Fragen zuständig ist (vgl. Organigramm des BMG).
Knapper Zeitplan
Wie schon berichtet, macht Gesundheitsminister Jens Spahn Tempo. Auf die Verbändeanhörung gestern folgten heute bereits die Bund-Länder-Abstimmung sowie die Ressortabstimmung mit den anderen Ministerien.
Für mich war es nach zwei Terminen als Sachverständiger im Bundestagsausschuss für Gesundheit meine erste Verbändeanhörung. Normalerweise erhalten die Verbandsvertreter zu Beginn die Möglichkeiten zu einem Eingangsstatement, darauf verzichtete Dr. Orlowski jedoch. Stattdessen diskutierte er die verschiedenen Regelungsbereiche des Gesetzes blockweise.
Gleich beim ersten Block ging es um die Wiedereinführung der paritätischen Beitragsfinanzierung und damit den größten finanziellen Posten. Dass der Zusatzbeitrag zur Krankenversicherung nicht mehr nur von Arbeitnehmern, sondern hälftig auch wieder von Arbeitgebern getragen werden muss, kostet alleine die privaten Arbeitgeber rund 5 Mrd. Euro. Laut BDA werde das je nach Studie zwischen 130.000 bis 300.000 Arbeitsplätze kosten.
Ich war gleich als erster Redner an der Reihe
Im Vergleich dazu sehr viel ausführlicher besprochen wurde im zweiten Block dann unser Thema: Die Absenkung der Mindestbemessungsgrenzen für Selbstständige. Ich war mit meinem Statement gleich als erster Redner an der Reihe. Ich begrüßte die Absenkung als Schritt in die richtige Richtung, hin zu einer einkommensabhängigen Beitragsbemessung. Der Schritt sei aber zu kurz geraten und es müssten weitere folgen.
Dies machte ich am Beispiel einer Teilzeit-Selbstständigen mit 450 Euro Einkommen deutlich, die auch nach der Gesetzesänderung bis zu 41 Prozent ihres Gewinns allein für Kranken- und Pflegeversicherung aufwenden muss, inklusive Rentenversicherung also über 60 Prozent. Dies wirkt als Eintrittsschwelle in die Selbstständigkeit vor allem für Frauen, die dementsprechend starke Anreize haben, weiterhin geringfügig (unter 435 Euro) zu arbeiten und beim Ehepartner beitragsfrei mitversichert zu bleiben.
80 Prozent der Betroffenen würden aber gerne mehr arbeiten. Nicht nur ihnen entgehen Mehreinnahmen, sondern auch den Sozialkassen und dem Staat. Eine Senkung der Mindestbemessungsgrenze auf 450 Euro wie bei Angestellten würde laut IfG-Studie zu zusätzlichen Beiträgen alleine bei der Kranken- und Pflegeversicherung von über 800 Millionen Euro führen.
Nur noch 23 Euro Unterschied zwischen "hauptberuflich" und "nebenberuflich" Selbstständigen
Auch kritisierte ich, dass die Mindestbemessungsgrenze nur für die "hauptberuflich" Selbstständigen abgesenkt wurde (von 30/40 auf 30/80) und nicht auch für die in ganz geringem Umfang "nebenberuflich" Selbstständigen (unverändert 30/90).
Zur Erläuterung:
- Bisherige Mindestbemessungsgröße für "hauptberuflich Selbstständige": 30/40 der "monatlichen Bezugsgröße" in Höhe von 3.045 Euro = 2.283,75 Euro – dies entspricht bei 18,5% Beitragssatz zur Kranken und Pflegeversicherung einem Mindestbeitrag von 422,50 Euro
- Ab 01.01.2019 geplante Mindestbemessungsgröße für "hauptberuflich Selbstständige": 30/80 von 3.045 Euro = 1.141,88 Euro – dies entspricht einem Mindestbeitrag von 211,25 Euro
- Mindestbemessungsgröße für "nebenberuflich Selbstständige": 30/90 von 3.045 Euro = 1.015 Euro – dies entspricht einem Mindestbeitrag von 187,78 Euro
Es folgten Redebeiträge von BDÜ, BDD, BVKTP und ver.di, die teils Argumente vertieften, teils auf zusätzliche Argumente eingingen. Wir nahmen dabei jeweils aufeinander Bezug und hinterließen einen sehr geschlossenen Eindruck.
Einzige Ausnahme: Während ver.di eine Ausweitung der Künstlersozialkasse (KSK) auf alle Selbstständigen ins Spiel brachte (was wir beim VGSD für unrealistisch halten), sagte ich, dass wir durchaus bereit sind, so viel Beiträge zu zahlen, wie Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen, aber eben auch nicht mehr. Genau das sei aber momentan der Fall. Daraus leitete ich dann unsere – in der Petition "Faire Beiträge" im Einzelnen dargestellten – Forderungen ab.
GKV-Spitzenverband argumentierte für 282 Euro, AOK-Bundesverband für 188 Euro Mindestbeitrag
Natürlich kamen auch die Spitzenverbände der Krankenkassen zu Wort. Sie alle unterstützen grundsätzlich die Absenkung der Mindestbeiträge, waren sich aber über die Höhe der Absenkung uneinig. Dem GKV-Spitzenverband geht die Halbierung der Mindestbeiträge zu weit, er forderte eine Absenkung auf nur 30/60 der Bezugsgröße (1.522,50 Euro – dies entspricht einem Mindestbeitrag von 281,66 Euro). Dabei wurde er vom BDA unterstützt, der befürchtet, dass die Arbeitgeber (zusammen mit den Arbeitnehmern) Mindereinnahmen ausgleichen müssen.
Der GKV-Spitzenverband begründete seine Forderung mit zwei Argumenten:
- Auch wenn der Mindestlohn (8,83 Euro/ Stunde, in Vollzeit also ca. 1.530 Euro/ Monat) für Selbstständige nicht gelte, so sei er doch ein Maßstab für eine nachhaltige Selbstständigkeit. Wer als Selbstständiger unter 1.530 Euro verdiene, bei dem läge eine solche Nachhaltigkeit nicht vor. Insofern passe der Wert von 1.522,50 Euro (30/60) besser.
- Selbstständige verfügten im Rahmen ihrer Betriebsausgaben über größere Gestaltungsmöglichkeiten als Angestellte. (Mit diesem Argument wird auch in der Gesetzesbegründung selbst das Fortbestehen der gegenüber Angestellten höheren Mindestbeiträge gerechtfertigt.)
Der AOK-Bundesverband dagegen schlug vor, die Mindestbemessungsgrenze für "hauptberuflich" und "nebenberuflich" Selbstständige bei 30/90 (1.015 Euro – dies entspricht einem Mindestbeitrag von 187,78 Euro) zu vereinheitlichen. Das erspare die aufwändige Überprüfung, ob eine haupt- oder nebenberufliche Selbstständigkeit vorliegt. Angesichts eines Beitragsunterschieds von 23,47 Euro mache das auch keinen Unterschied mehr.
Meine Reaktion auf die Argumente des GKV-Spitzenverbandes
Ich unterstützte diese Forderung des AOK-Bundesverbands und wünschte mir vom Ministerium mehr Mut: Spätestens mit der Einführung der Altersvorsorgepflicht Anfang 2020 oder 2021 müssten (nach meiner Überzeugung) ohnehin vollständig einkommensabhängige Beiträge und vergleichbare Bemessungsgrundlagen wie bei Angestellten (im Hinblick auf Mieteinnahmen, Zinsen und Dividenden sowie rechnerische Arbeitgeberanteile) eingeführt werden, weil sonst Selbstständige mit niedrigem und mittlerem Einkommen in der Summe von den Beiträgen überfordert würden und massenhaft ihre Selbstständigkeit aufgeben müssten.
Den Argumenten des GKV-Spitzenverbandes widersprach ich entschieden:
- Wer als Selbstständiger unter 1.530 Euro pro Monat verdient, ist keinesfalls automatisch ein "gescheiterter" Selbstständiger, der unter Mindestlohn verdient. Vielmehr ist der von der Sozialversicherung verwendete Begriff des "hauptberuflich Selbstständigen" irreführend: Die große Mehrzahl der von der Sozialversicherung als "hauptberuflich" bezeichneten Selbstständigen sind Teilzeit-Selbstständige, die z.B. aufgrund von Familienarbeit oder Pflege deutlich unter 40 Stunden/Woche arbeiten. Die Berechnung einer Mindestbemessungsgrenze anhand von 40 Wochenstunden wird insofern den tatsächlichen Verhältnissen in keiner Weise gerecht.
- Die Begründung der höheren Mindestbeiträge mit größeren Gestaltungsmöglichkeiten bei Betriebsausgaben hatten ich und andere Redner wie Jochen Clausnitzer (BDD) und Ralf Lemster (BDÜ) schon zuvor deutlich kritisiert. Ich wies den Vertreter des GKV-Spitzenverbandes darauf hin, dass die betroffenen Selbstständigen mit einem Einkommen von weniger als 1.142 Euro in der Regel gar keinen finanziellen Spielraum für steuerliche Gestaltungen haben und auch über keinen Steuerberater verfügen. Allen Teilzeitselbstständigen andererseits pauschal Steuerunehrlichkeit zu unterstellen, ist ebenso wenig akzeptabel wie bei Angestellten.
Ein weiteres von uns vorgebrachtes Argument war, dass die neue Regierung im Koalitionsvertrag einen weiteren Ausbau der Gleitzonenregelung (zwischen 450 und 850 Euro Einkommen) vereinbart hat, um den Einstieg in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zusätzlich zu vereinfachen – dabei sind die Einstiegsschwellen für Angestellte schon jetzt viel geringer als bei Selbstständigen. Warum fällt es der Regierung so schwer, das für Angestellte als richtig erkannte auch Selbstständigen zuzubilligen?
Welche Mindestbemessungsgröße kommt nun ins Gesetz?
Mit meinem Statement endete der zweite Block der Anhörung. Welche Schlussfolgerungen die Ministerialbeamten daraus ziehen, werden wir wahrscheinlich schon in wenigen Wochen erfahren, wenn die Ergebnisse der gestrigen und heutigen Veranstaltung in einen überarbeiteten Gesetzesentwurf einfließen und dieser bekannt wird.
Die geplante neue Mindestbemessungsgröße von 1.142 Euro war das Ergebnis zäher Verhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD, was sich auch darin widerspiegelt, dass sie erst mit der finalen Version des Koalitionsvertrages feststand, also in letzter Minute entschieden wurde. Es ist deshalb davon auszugehen, dass sich keine Seite auf weitere Zugeständnisse einlassen wird.
Eine Absenkung auf 30/90, wie von der AOK vorgeschlagen, wäre schon ein großer Erfolg (und auch eine pragmatische und sinnvolle Anpassung). Wahrscheinlich wird es dazu aber ebenso wenig kommen, wie zu der vom GKV-Spitzenverband verlangten höheren Bemessungsgrenze von 30/60.
Der dritte und vierte Diskussionsblock drehte sich um das Thema Beitragsschulden und den geplanten Zwang zur Absenkung der Krankenversicherungs-Zusatzbeiträge bei Vorliegen von Rücklagen in bestimmter Höhe bei den Krankenkasse. Die öffentliche Diskussion über das Gesetzesvorhaben hatte sich in den letzten Woche vor allem um letzteren Punkt gedreht, in den Medien war sogar die Rede von einer "Todesspirale", in die kleinere Krankenversicherungen durch die Regelung getrieben werden könnten.
Selbstständige jahrelang als Beitragsschuldner stigmatisiert, jetzt plötzlich keine Rede mehr davon
Ich ergriff ganz am Ende der Anhörung als letzter Redner noch einmal das Wort und stellte eine Frage zu den hohen Beitragsschulden von inzwischen 9 Milliarden Euro. Für diese waren in den Medien – basierend auf Auskünften der Krankenkassen – jahrelang wir Selbstständigen verantwortlich gemacht worden, obwohl dies bedeutet hätte, dass jeder Selbstständige in Deutschland im Schnitt 2.000 Euro Beitragsschulden hat – oder jeder zehnte Selbstständige Beitragsschulden in Höhe von 20.000 Euro.
Das war in diesem Umfang zu keinem Zeitpunkt plausibel, aber durch uns im Gespräch mit Journalisten mangels genauerer Zahlen trotzdem schwer zu widerlegen. So entwickelten sich die hohen Beitragsschulden zum festen Bestandteil des Narrativs vom "prekären Selbstständigen".
Im Gesetz war jetzt plötzlich auffälligerweise keine Rede mehr von uns Selbstständigen. Vielmehr rühren die Schulden – so die Analyse – zu einem überwiegenden Teil von Phantommitgliedschaften im Rahmen der "obligatorischen Anschlussversicherung" (OAV) her: Den gesetzlichen Krankenversicherungen werden z.B. in großer Zahl Erntehelfer aus dem Ausland gemeldet und nach wenigen Wochen, nach deren Rückkehr in ihr Heimatland, von deren Arbeitgebern wieder abgemeldet.
Die Krankenversicherungen schreiben daraufhin die Erntehelfer an, denn sie sind verpflichtet sicherzustellen, dass ein ununterbrochener Versicherungsverlauf besteht ("obligatorische Anschlussversicherung"). Wenn sie, was in der Regel geschieht, keine Antwort erhalte, müssen sie die Erntehelfer weiter als freiwillig Versicherte führen und zwar zum Höchstsatz.
Das entspricht im Schnitt rund 11.000 Euro Beiträgen pro Kopf und Jahr. Da Selbstständige den größten Teil der freiwillig Versicherten ausmachen, schlossen die Medien und ihre Informationsgeber daraus, dass es die Selbstständigen sind, bei denen diese enormen Beitragsschulden auflaufen.
Mehr Transparenz gefordert - und vom Ministerium zugesagt bekommen
In meinem Statement wies ich darauf hin, dass auch nach einer Bereinigung um die "Phantommitglieder" noch reale Beitragsschuldner übrig bleiben werden, darunter auch Selbstständige. Um deren fehlenden Zugang zu Ärzten und weitere Probleme nachhaltig zu lösen, sei es (neben der Senkung der Mindestbeiträge) wichtig, dass man endlich weiß, über wie viele Betroffene man genau redet.
Deshalb forderte ich eine genauere statistische Auswertung (die wiederum detailliertere Meldungen der Krankenkassen voraussetzen). Aus ihnen muss nicht nur die Zahl der betroffenen freiwillig Versicherten hervorgehen, sondern auch die Zahl der Selbstständigen, idealerweise auch deren Branche.
Dr. Orlowski und der zuständige Referatsleiter, Herr Renner, bestätigten, "dass es einfach nicht stimmt", dass die Beitragsschulden vor allem auf Selbstständige zurückzuführen sind. Sie sagten zu, dass sehr zeitnah die Statistiken überarbeitet würden, um die Zusammensetzung der Beitragsrückstände und die Fortschritte bei ihrer Reduzierung besser nachvollziehen zu können.
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