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Weiterer offener Brief an Arbeitsminister Heil "Arbeiten Sie mit uns, um unser Land wirtschaftlich voranzubringen"

Am 26. Juli hatten wir einen offenen Brief des engagierten SPD-Mitglieds Michaela Mellinger an Bundesarbeitsminister Heil veröffentlicht.

VGSD-Mitglied Marc Dauenhauer hat sich davon inspirieren lassen und auf seiner Website ebenfalls einen offenen Brief an Hubertus Heil veröffentlicht.

IT-Experte Marc Dauenhauer: Die Regierung will die Digitalisierung vorantreiben und behindert sie zugleich

Als Experte für Digitalisierung, Sicherheit und Datenschutz, der selbst schon ganz praktisch mit den Auswirkungen der bestehenden Rechtsunsicherheit konfrontiert wurde, möchte er nicht länger schweigen.

Wir geben den offenen Brief mit Erlaubnis von Marc hier im Wortlaut wieder:

Neues, weitgehend unbemerktes Artensterben mit immensem Schadenspotenzial

Sehr geehrter Herr Bundesarbeitsminister Heil,

ich schreibe Ihnen heute aus Angst vor einem neuen Artensterben, welches, von der großen Öffentlichkeit unbemerkt, der deutschen Wirtschaft einen immensen Schaden beizufügen droht und die Chancen der digitalen Transformation in unseren Unternehmen massiv schmälert. Die Folgen Ihrer Politik laufen allen Bestrebungen zuwider, die Digitalisierung der Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft zu fördern. Ich schreibe Ihnen heute auch, weil ich zur bedrohten Art gehöre, deren Existenzgrundlagen durch Ihre Politik gefährdet und deren berufliche Perspektiven in beängstigender Weise geschmälert werden.
Wir alle wissen, welche Zukunftsrolle der Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft zugeschrieben wird und uns sollte bewußt sein, dass Deutschland sich anstrengen muss, den Anschluss an die führenden Nationen in diesem Bereich nicht zu verlieren.

Digitalisierungsexperten werden dringend benötigt - ihr Einsatz aber vom Arbeitsministerium behindert

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat erneut einen offenen Brief erhalten

Deutsche Unternehmen stehen mit der Digitalisierung an weiten Stellen noch am Anfang, von der öffentlichen Verwaltung einmal ganz abgesehen. Know-How ist Mangelware, so auch die Zahl der verfügbaren IT-Experten, die benötigt würden, einer digitalen Transformation vieler Unternehmen den richtigen Schub zu verleihen. Aber genau das wäre notwendig, um arbeitsmarktpolitisch Arbeitsplätze fit für die Zukunft zu machen.

Vor dem Hintergrund einer digitalen Revolution verhindert unverständlicherweise gerade die Politik Ihres Hauses, dass sich Unternehmen der digitalen Experten tatsächlich bedienen und von deren Know-How profitieren können. Der Grund hierfür ist simpel. Viele dieser dringend benötigten Experten sind – so wie ich seit über 20 Jahren – sogenannte Soloselbständige, denen zunehmend die Existenzgrundlage entzogen wird.

Freelancer-Verbote in Serie bei großen deutschen Unternehmen

Die jüngste Entscheidung von Vodafone, keine Soloselbständigen mehr zu beschäftigen und dies auch von Zulieferern zu verlangen, ist ein weiterer harter Schlag für die Gruppe von freiberuflichen IT-Experten. Dieser Entscheidung gingen viele andere gleichartige Entscheidungen von Unternehmen wie z.B. Commerzbank, Deutscher Bank oder Allianz voraus. Sie alle basieren auf einem einfachen Grund: Der sich seit Jahren verschlimmernden Rechtsunsicherheit bei der Beauftragung von Soloselbständigen. Ein Umstand, den das SPD-geführte Arbeitsministerium im Wesentlichen zu verantworten hat.

Jetzt könnte man freilich folgern, auf die Gruppe von Selbstverwirklichungs-Experten am besten ganz zu verzichten und dieses Arbeitsmodell konsequent abzuschaffen. Die bisherige Ignoranz der Politik und die teilweise absurden Versuche der Wirtschaft, sich Rechtssicherheit zu verschaffen, führen genau hierzu. Vielleicht erinnern Sie sich an Berichte über das Bienensterben. Es ist vielleicht nicht so schlimm, wenn diese kleinen Insekten verschwinden, aber wer zum Teufel bestäubt dann die ganzen Nutzpflanzen, die unsere Ernährungsgrundlage darstellen. Komplexe Systeme sind nicht leicht zu durchschauen und manchmal ergeben sich Kollateralschäden, die danach kaum noch zu reparieren sind.

Leiharbeit ist keine Option

Wenn der eingeschlagene politische Kurs nicht korrigiert wird, bliebe uns Freiberuflern mittelfristig dann nur eine beschränkte Auswahl an Optionen:
  1. Wir begäben uns in wesentlich schlechter bezahlte Leiharbeitsverhältnisse, in denen wir nicht mehr frei agieren können sondern wie feste Mitarbeiter in den jeweiligen Unternehmensstrukturen gefangen sind. Wir haben uns nicht vor Jahren für die Selbständigkeit entschieden, um heute in der Zeitarbeit zu landen.
  2. Alternativ könnten wir bei einer Unternehmensberatung anheuern, die uns entweder per Leiharbeit oder im Rahmen komplexer Werkvertragsmodelle mit reduziertem Kundenkontakt in Projekte steckten. Neben der Tatsache, dass wir dann nicht mehr selbst entschieden, in welchen Projekten wir arbeiten wollen, würde auch der überwiegende Teil des Profits an uns vorbei in die Taschen der Partner und Gesellschafter dieser Firmen gehen. Warum sollten wir das wollen?
  3. Die dritte Option bestünde darin, sich direkt auf Stellen der Endkunden zu bewerben, quasi vom Externen zum Internen zu wechseln. Damit wäre aber sehr schnell das Ende des Tellerrandes erreicht, über den wir immer hinweggeblickt haben und der uns für unsere Kunden ja besonders interessant gemacht hat. Wir lieben die Abwechslung, die Herausforderung und das Neue.

Erschreckend viele sind schon ins Ausland gegangen

Da viele von uns über Jahre oder sogar Jahrzehnte eigenverantwortlich gearbeitet haben, kommt keine dieser Optionen wirklich in Frage. Auch ich habe schon Projekte bei Auslandstöchtern deutscher Unternehmen durchgeführt, weil man in Deutschland keine Freiberufler mehr beschäftigen aber auf das Know-How auch nicht verzichten wollte.

Konsequent weitergedacht, ist für viele gerade hochkarätige selbständige IT-Experten der Weg ins Ausland nicht nur die sinnvollste sondern auch einfachste Option. Wir sind gut ausgebildet, haben begehrtes Spezialwissen, sprechen meist gut bis sehr gut Englisch und sind erfahren in der Arbeit in internationalen Teams.  Es ist erschreckend zu sehen, wieviele meiner Kolleg*innen diesen Weg bereits gegangen sind oder sich derzeit damit beschäftigen. Deutschland wird uns nicht nur als IT-Experten sondern auch als Konsumenten und Steuerzahler verlieren.

Geringschätzung und grundlegender Mangel an Verständnis unserer Arbeit

Die Geringschätzung der freiberuflichen IT-Experten durch die deutsche Politik geht einher mit einem grundlegenden Mangel an Verständnis über das Wesen unserer Arbeit und den Wertbeitrag den wir für die Unternehmen und damit auch für die Gesellschaft leisten. Die Mehrzahl von uns arbeitet in Projekten. Projekte sind etwas vollkommen anderes als Linienaufgaben in einem Unternehmen. So definiert das Office of Government Commerce ein Projekt als „eine für einen befristeten Zeitraum geschaffene Organisation, die mit dem Zweck eingerichtet wurde, ein oder mehrere Produkte in Übereinstimmung mit einem vereinbarten Business Case zu liefern.“
Als Freiberufler sind wir immer Teil dieser Organisation. Damit verstoßen wir regelmäßig gegen das 1. Dogma der Abgrenzung zum festen Mitarbeiter: Wir sind in die Organisation des Kunden integriert – wenn auch nur in die Projektorganisation. Wir arbeiten eng zusammen mit festen Mitarbeitern des Kunden im täglichen Austausch. Nur so funktioniert der notwendige Know-How-Transfer. Nur so hat das Unternehmen wirklich etwas von uns. Projekte, in denen man krampfhaft versucht, externe Mitarbeiter von internen Mitarbeitern zu isolieren, sind weit weniger effektiv, dauern länger und entsprechen in der Qualität nicht dem erwarteten Ergebnis. Der zu leistende Overhead ist einfach zu groß. Am Ende ist nichts gewonnen und die strikte Trennung wird aus Opportunitätsgründen inoffiziell umgangen.

Abgrenzungskriterien der Rentenversicherung passen nicht mehr in die heutige Zeit

Wir haben kaum eigenes Equipment, welches wir für unsere Arbeit einsetzen. Damit verstoßen wir gegen das 2. Grundgesetz der Rentenversicherung. Die eigenen Betriebsmittel. Was dies im Kontext von IT für ein ausgemachter Unsinn ist, weiß jeder, der sich schon einmal mit der Komplexität von BYOD (bring your own device) im Zusammenhang mit Datenschutz und IT-Sicherheit beschäftigt hat. Es ist für die IT-Sicherheit ein Alptraum, wenn in sensiblen Bereichen kein vom Unternehmen zertifiziertes und genehmigtes Equipment eingesetzt wird. Ganz davon abgesehen, fehlt mir alleine der Parkplatz, um jeden Morgen mit meinem eigenen LKW den Großrechner vor das Büro meines Kunden zu karren. Das von uns eingebrachte Know-How sowie die jahrelange Projekterfahrung ist unser Betriebskapital. Das ist weder kopierbar noch einfach zu ersetzen. Das macht uns wertvoll und darin haben wir jahrelang investiert. Es ist eine Schande, dass dies in der Bewertung weniger zählen soll als ein paar Chips aus Silizium, nur weil die ein Rentenprüfer einfacher erkennen kann.

Die heute angewendeten Abgrenzungskriterien sind eine einzige Missachtung eines ganzen Berufsstandes, da sie ungeeignet sind, die Realität der Arbeitswelt in IT-Projekten zu erfassen. IT-Projekte sind komplex und lang. Projektlaufzeiten von mehr als 12 Monaten sind nahezu die Regel. Damit verstoßen wir schon wieder gegen ein Dogma, Dogma Nr. 3. Wir dürfen nicht mehr als 5/6 unseres Umsatzes von einem Kunden generieren um nicht in Gefahr zu laufen als abhängig beschäftigt zu gelten. Damit wären Projekte mit freiberuflichen Experten in Schlüsselpositionen überhaupt nicht möglich. In einem komplexen Projekt mit lauter Wissensarbeitern ist der Einzelne nicht beliebig austauschbar. Zu viel an Projektwissen geht verloren und muss erst wieder aufgebaut werden, wenn ein neuer Mitarbeiter an Board genommen wird. (Anmerkung AL: Die 5/6-Regelung ist in erster Linie Kriterium für arbeitnehmerähnliche Selbstständigkeit mit der Rechtsfolge, dass der Selbstständige selbst rentenversicherungspflichtig ist.)

Wir reden nicht über industrielle Produktion am Fließband, sondern über Wissensarbeit

Wir reden hier nicht über eine industrielle Produktion am Fließband, bei der ich Mitarbeiter*innen in zwei Wochen anlernen kann, sondern um Entwicklungsleistungen von Mitarbeitern mit mehrjähriger spezialisierter Erfahrung. Deswegen dürften auch die Leiharbeitsalternativen langfristig scheitern, da hier Projektmitarbeiter spätestens nach 18 Monaten ausgetauscht werden müssen und damit das Projektwissen entsprechend abgezogen wird – ironischerweise meist in der wirklich kritischen Projektphase.

Wir freiberuflichen Mitarbeiter arbeiten oft zwei bis drei Jahre an einem Projekt in einem Unternehmen, pflegen dabei unser Netzwerk, haben oft kleinere Aufträge nebenher und bekommen fortlaufend neue Anfragen. Hieraus eine wirtschaftliche Abhängigkeit zu konstruieren, ist verfehlt. Wir freiberuflichen IT-Mitarbeiter liefern das benötigte Know-How zielgerichtet. Wir haben in vielen Projekten und Unternehmen gearbeitet und bringen diese Vielfalt an Erfahrung in jedem neuen Projekt gewinnbringend für unsere Kunden ein.

Die "Kleinen" in die Fänge der Großen zu treiben, sollte nicht Politik der SPD sein

Wir sind es gewohnt, auf Augenhöhe mit unseren Auftraggebern zu verhandeln und kennen unseren Marktwert. Wir sind ein wichtiger Motor von Innovation, die den wirtschaftlichen Erfolg unserer Kunden sichern hilft. Die gegenwärtige Arbeits- und Sozialpolitik schränkt uns massiv ein, unsere Leistungen zum Wohle aller marktgerecht anbieten zu können. Ich erlebe eine Politik, die uns Freiberufler in die Arme von Organisationen treibt, die dies für ihre Zwecke ausnutzen und ihren Profit aus unserer politikgemachten Unfreiheit ziehen. Die „Kleinen“ in die Fänge der Großen zu treiben, sollte nicht die Politik der SPD sein, doch genau dies ist hier ganz offensichtlich der Fall.

Natürlich kann es nicht richtig sein, wenn IT-Freiberufler über Jahre hinweg sich auf Linienpositionen in Unternehmen „ausruhen“. Es ist genauso wenig richtig, wenn Selbständige keine Vorsorge betreiben und im Alter auf die Gemeinschaft angewiesen sind. Hier muss gegengesteuert werden und dagegen verschließt sich ernsthaft auch niemand. Wir sind in der Mehrzahl keine Hasardeure. Wir sind verantwortungsvolle Menschen in verantwortungsvollen Rollen. Wir haben Familien, deren Existenz wir sichern. Wir sorgen vor und sichern uns ab gegen Krankheit, Berufsunfähigkeit und andere Risiken. Wir planen unsere Altersversorgung, gestützt auf unterschiedliche Säulen. Wir haben uns selbständig gemacht, weil wir frei entscheiden wollen. Das gilt auch für die Art und Weise, wie wir vorsorgen.

Arbeiten Sie mit uns, um unsere Kunden und unser Land wirtschaftlich voranzubringen

Ich möchte Sie, Herr Minister, herzlich bitten, mit uns, unseren Verbänden wie z.B. dem VGSD e.V., den CEOs der großen Unternehmen und anderen Beteiligten daran zu arbeiten, die Rolle der freiberuflichen IT-Experten zu stärken und nicht weiter zu schwächen, einen Rahmen zu schaffen, in dem wir unser Potential entfalten und mit unseren Auftraggebern marktgerecht und auf Augenhöhe zusammenarbeiten können. Wir wollen uns, unsere Kunden und auch unser Land wirtschaftlich voranbringen und uns an der digitalen Transformation beteiligen, die unseren Wohlstand sichert. Warum ist es nicht möglich, moderne Kriterien zur Abgrenzung von Beschäftigung und Selbständigkeit zu entwickeln? Gerade die Abgrenzung zwischen zeitlich beschränkten Projekten und unbefristeten Linienaufgaben würde doch ein hervorragendes Kriterium abgeben. Die Höhe des Tagessatzes wäre ein weiteres.

Bitte beenden Sie die Jagd auf soloselbständige IT-Experten, bevor zu viele das Land verlassen oder aufgeben. Wir brauchen mehr und nicht weniger Unternehmertum in diesem Land. Wir brauchen Aufbruch und keine Bedenkenträger. Wir brauchen Mut und Zutrauen. Helfen Sie uns dabei und sehen Sie nicht weiter weg, wie sich die Bedingungen für die selbständigen IT-Experten in diesem Land weiter verschlechtern.

Sonst macht irgendwann der Letzte das Licht aus.

Mit den besten Grüßen

Marc Dauenhauer

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