Damit ihr einen Eindruck davon bekommt, wie es in Brüssel so abläuft, möchte ich (Andreas Lutz) im Sinne größtmöglicher Transparenz von meinem ersten Termin in Europas Regierungszentrum ausführlich berichten - durchaus auch über Themen, die ich mit gemischten Gefühlen sehe.
Im Anschluss an die Mitgliederversammlung und die Bewerbungsreden neuer Mitgliedsverbände organisierte unser Dachverband EFIP einen Workshop (Dauer: 2 1/4 Stunden) zum Thema "Contribution of New Forms of Work to a Dynamic EU Labour Market", einen Thema, das in Brüssel offenbar gerade eine wichtige Rolle spielt. War früher "Flexicurity" ein Buzzword, wird jetzt viel über die neuen Arbeitsformen diskutiert. Neben den EFIP-Mitgliedern bot diese Veranstaltung auch anderen Verbänden und Institutioen Gelegenheit zur Teilnahme. Knapp 50 Zuhörer waren anwesend.
Die Veranstaltung bot die Chance, die Vertreterin einer EU-Institution und einen Vertreter einer mächtigen Lobby-Organisation kennen zu lernen und zu verstehen, wie sie "ticken".
Denis Pennel, Eurociett
Erster Sprecher war Denis Pennel (Foto links, Managing Director der European Confederation of Private Employment Agencies, Eurociett). In seiner Präsentation zeigte er Zahlen, die belegen, dass die normale Festanstellung in der EU allmählich atypisch wird: Von 100 Erwerbstätigen arbeiteten 90 offiziell (also nicht "schwarz"), von diesen wiederum 85 Prozent (76) sozialversicherungspflichtig (also nicht selbstständig), von diesen dann 80 Prozent (62) in einem unbefristeten (permanenten) Arbeitsverhältnis und davon wiederum 84 Prozent (52) in Vollzeit.
Grund für die Entwicklung: Sowohl Arbeit- bzw. Auftraggeber als auch mit gewissen Einschränkungen Arbeit- bzw. Auftragnehmer wünschten sich flexiblere Arbeitsbedingungen. Länder wie die USA und Großbritannien zeigten in dieser Entwicklung den Weg vor. 53 Millionen Amerikaner seien inzwischen selbstständig. Während die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs stagniere, habe die Zahl der Selbstständigen seit 2000 in Großbritannien um fast 40 Prozent und in den USA sogar um 50 Prozent zugenommen.
Die Entwicklung mache den europäischen Regierungen Sorgen in Hinblick auf die Finanzierung der umlagebasierten Sozialsysteme. Wenn immer mehr Leute für sich selbst vorsorgen, wer zahlt dann die Rente derer, die in der Vergangenheit in das Sozialversicherungssystem eingezahlt haben und die Rente ihrer Eltern und Großeltern finanziert haben? Genau aus diesem Grund werde - da ist Pennel sich sicher - das Thema Scheinselbstständigkeit in den nächsten Monaten und Jahren eine wichtige Rolle auf der Agenda der Kommission spielen. (Wenn die Selbstständigen sich einer gesetzlichen Versicherungspflicht entgegenstellen, dann erklärt man sie eben für scheinselbstständig und auf diesem Weg für sozialversicherungspflichtig.)
Irene Mandl, Eurofound
Im Anschluss stellte Irene Mandl (Foto links, Research Manager, European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions, Eurofound) ihre Studie vor über "Emerging Forms of Employment Across the EU" ebenfalls in Form einer Präsentation vor.
Mit Partnerorganisationen in zahlreichen EU-Ländern sammelte sie Fallbeispiele für sich mehr oder weniger schnell verbreitende, "neue" Formen der (Zusammen-) Arbeit und kategorisierte sie in folgende Bereiche:
- Casual work
- Crowd employment
- Portfolio work
- Collaborative self-employment
- ICT-based mobile work
- Voucher-based work
- Interim management
- Employee sharing
- Job sharing
1-3 bewertet sie in Hinblick auf Arbeitsmarkt und -bedingungen eher negativ, 7-9 positiv. 4-6 liegen in der Mitte.
In der Diskussion bestand auch hier Einigkeit, dass sich neue Formen der Arbeit entwickeln bzw. damit experimentiert wird und dass es sowohl von Seiten der Auftraggeber als auch -nehmer Bedarf nach neuen Arbeitsformen gibt, die mehr Freiheit und Flexibilität bieten. Zugleich besteht bei einigen Formen die Gefahr der Aushöhlung von Sozialstandards.
Obwohl Irene Mandl bemüht war, die Vor- und Nachteile ausgewogen darzustellen, wurde deutlich, dass die Politik dazu tendiert, vor allem die Gefahren zu sehen und entsprechend zu regulieren (Stichworte: Scheinselbstständigkeit, Arbeitnehmerüberlassung) - statt den Bedarf nach mehr Selbstständigkeit und flexibleren Arbeitsmodellen zu akzeptieren und die dafür erforderlichen Rahmenbedingungen und sozialen Mindeststandards zu schaffen.
Diskussion
Eine Zuhörerin brachte die Bedürfnisse der anwesenden Selbstständigen sinngemäß so auf den Punkt: "Bitte verstehen Sie doch. Wir wolle neue, flexible Arbeitsformen und keine Rückkehr zu hierarchischen Organisationen. Wir wollen selbstständig sein und akzeptieren das Risiko, einmal keine Aufträge zu haben. Wir wollen aber auch eine erschwingliche Sozialversicherung, zum Beispiel im Fall von Krankheit, Mutterschaft usw., und dabei nicht länger schlechter behandelt werden als Angestellte."
Dem steht allerdings ein unter Politikprofis verbreitetes Denkmuster gegenüber, das sich in folgender Äußerung Pennels spiegelte: "Dann müssen Sie sich entscheiden, ob Sie Arbeitnehmer sind und von Gewerkschaften vertreten werden möchten oder Arbeitgeber und von Arbeitgeberverbänden vertreten werden wollen."
EFIP-Präsident Chris Bryce wies als Reaktion darauf hin, dass aufgrund von Interessenkonflikten weder die einen noch die anderen die Interessen der kleinen Selbstständigen vertreten würden und ja genau aus diesem Grund überall in Europa Selbstständigenverbände aus dem Boden sprießen würden."
Fazit
Der Workshop bot Einblicke in die Denkweise und Agenda von europäischen Organisationen und zeigte, dass es insbesondere beim Thema Scheinselbstständigkeit auf breiter Front zu einer weiteren Verschärfung der Gesetzeslage kommen könnte. Eine solche Entwicklung nützt nach den bisherigen Erfahrungen aber weder den Selbstständigen noch ihren Auftraggebern, sondern sorgt vor allem für mehr Rechtsunsicherheit.
Wir müssen unserer Stimme deshalb auch in Brüssel Gehör verschaffen - eine aktive Rolle im Dachverband EFIP ist deshalb wichtig.
Lese auch: "VGSD-Arbeitsgruppe 'Scheinselbstständigkeit' - Mach mit!" - Weitere Infos
Pressemitteilung zur Veranstaltung (EFIP)
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