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Bundesrechnungshof warnt vor Abgabenlast Sozialversicherungsbeitrag bei 53,3 Prozent - in 40 Jahren

Drei zu eins: Diese Rechnung für Beitragszahlende und Rentenempfänger geht künftig nicht mehr auf. In 40 Jahren ist das Verhältnis laut Bundesrechnungshof 2:1

Klare Worte, starker Appell: Der Bundesrechnungshof warnt vor dem Finanzkollaps der Sozialkassen und fordert Reformen in der Sozialpolitik. Neben einem späterem Renteneintritt, obligatorischer Privatvorsorge und höherer Zuzahlungen für Patienten empfiehlt er eine Rentenversicherungspflicht für Selbstständige – für Beamten indes nicht.

In einem 120 Seiten starken Bericht für den Haushaltsausschuss des Bundestags mahnten die obersten Rechnungsprüfer, die Bundesregierung müsse besser auf die alternde Gesellschaft reagieren und das deutsche Sozialsystem dringend reformieren. Ohne Reform wird die Finanzierung von Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung Beitragszahlende und Steuerzahlende immer stärker belasten. Das ist freilich nicht neu, wohl aber derjenige, der die Kritik ausspricht: Der Bundesrechnungshof (BRH) in Bonn ist als unabhängiger Kassen- und Wirtschaftsprüfer des Bundes eine oberste Bundesbehörde und nimmt mangels Weisungsgebundenheit eine Sonderstellung in der Gewaltenteilung ein.

"Politik nach Kassenlage" statt Zukunftsvorsorge

Heftig ins Gericht geht der BRH laut Medienberichten dabei mit der aktuellen "Politik nach Kassenlage" statt einer zukunftsorientierten Vorsorge, die eine faire Lastenverteilung der Generationen im Blick hat. "Die Politik könne … nicht Stabilität von Beiträgen und Versorgungsniveau versprechen und gleichzeitig Steuererhöhungen oder neue Schulden ausschließen", zitiert das Handelsblatt vom vergangenen Montag die Behörde aus ihrem nicht öffentlichen Bericht.

Grundlage für die Warnung des Bundesrechnungshofs sind Berechnungen von Finanzwissenschaftler Prof. Martin Werding, künftiges Mitglied des Sachverständigenrates der Bundesregierung, zur Finanzentwicklung von Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung bis zum Jahr 2060. Der Demografie-Experte hat laut "Welt" bereits in den vergangenen zwei Legislaturperioden die Tragfähigkeitsberichte für das BMF erstellt und Handlungsbedarf aufgezeigt.

Schreckensszenario: 53,3 % Sozialversicherungsbeitrag in 40 Jahren

Laut seinen Berechnungen werden in 40 Jahren einem Rentenbeziehenden voraussichtlich nur noch zwei Beitragszahlende gegenüberstehen – statt rechnerisch derzeit drei. Die Gesamtausgaben der Sozialversicherung werden laut Handelsblatt auf mehr als 29 Prozent der Wirtschaftsleistung belaufen (derzeit: 22%).

Ohne Gesetzesänderungen stiegen die Sozialversicherungsbeiträge nach der Projektion bis 2060 von derzeit rund 40 auf etwa 53 Prozent, berichtet das Handelsblatt. "Für Selbstständige, die in Deutschland schon jetzt Sozialversicherungsbeiträge auf eine 20 Prozent höhere Bemessungsgrundlage zahlen, nämlich auf den Gewinn anstatt auf das Arbeitnehmerbruttogehalt, ist das eine beängstigende Aussicht. Nicht nur müssen sie statt 40 Prozent dann 53,3 Prozent Sozialabgaben bezahlen, sondern auch auf eine deutlich höhere Bemessungsgrundlage zahlen, weil Gewinn und Arbeitnehmerbrutto noch weiter auseinander gehen", sagt VGSD-Vorstand Andreas Lutz. "Am Ende wird so auch für gutverdienende Selbstständige nicht genug zum Leben bleiben!"

Laut Handelsblatt würden sich die Bundeszuschüsse von 121 Milliarden Euro im Jahr 2019 auf 454 Milliarden Euro mehr als verdreifachen. Knapp fünf Prozent statt zuletzt 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung müssten dann als Zuschuss in die Sozialversicherungszweige fließen.

Gefahr für die Jungen und die Wirtschaft

"Sollen die Sozialbeiträge bei 40 Prozent eingefroren werden, müsste der Bund in 2060 wohl rund zehn Prozent der Wirtschaftsleistung aufwenden, um die Sozialkassen zu stabilisieren", berichtet das Handelsblatt. Laut der Chefökonomin der "Welt", Dorothea Siems, beschert eine dauerhafte Festschreibung bei 40 Prozent "Deutschland langfristig einen Schuldenstand von rund 140 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, was in etwa den heutigen italienischen Verhältnissen entspricht".

Die Rechnungsprüfer sehen darin die Gefahr, „dass zukünftige Generationen von Beitragszahlenden und Steuerzahlenden zu stark belastet werden, die wirtschaftliche Entwicklung gefährdet wird und der Bund an die Grenzen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit stößt“, zitiert die Osnabrücker Zeitung aus dem Bericht. „Deshalb sollte der Gesetzgeber handeln.“

Reformideen des Bundesrechnungshofs

Um die Lastenverteilung für die Jüngeren zu minimieren und die wirtschaftliche Entwicklung nicht zu gefährden, schlagen die obersten Rechnungsprüfer einen Mix an Reformen vor, die sich an Beitragszahler wie Nicht-Beitragszahler wenden:

Rentenversicherung

  1. Selbstständige im staatlichen Rentensystem: Wer keine berufsständische Pflichtversorgung, wie etwa die freien Berufe über die Kammern, erhält, soll in das gesetzliche Rentensystem einbezogen werden. Für Beamte wird das ausgeschlossen.
  2. Private Zusatzrente: Arbeitnehmer sollen laut "Welt" drei Prozent des Bruttogehalts automatisch in die private Altersversorgung investieren. Ob das auch für Selbstständige vorgesehen ist, ist offen. Das "Handelsblatt" schreibt indes nur von einer "obligatorischen zusätzlichen Altersvorsorgung" – ohne Einschränkung auf Arbeitnehmer.
  3. Späterer Renteneintritt: Das Rentenalter soll stufenweise nach der Rente mit 67 auf 69,5 Jahren im Jahr 2060 angehoben werden.

Kranken- und Pflegeversicherung

  1. Höhere Zuzahlungen: Gesetzlich Versicherte sollen höhere Zuzahlungen leisten.
  2. Höhere Beiträge für Frührentner: Beitragsausfälle sollen durch höhere Beiträge ausgeglichen werden.
  3. Beamten in der Kranken- und Pflegeversicherung: Neu ernannte Beamten sollen in die gesetzliche Kranken- und Pflegeversichgerung einbezogen werden. Das gilt aber nicht für die Rentenversicherung, weil "Beamte aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Lebenserwartung der Rentenversicherung auf längere Sicht keine Entlastung brächten", schreibt die "Welt".
  4. Ausbau des kapitalgedeckten Pflegevorsorgefonds: Diese finanzielle Stütze der Pflegeversicherung soll den Beitragssatzanstieg abmildern.
    Quelle: Handelsblatt, Welt

Leichte Abfederung des Sozialbeitragssatzes möglich

Laut Berechnungen von Prof. Martin Werding würde die Kombination aller Reformelemente den Sozialbeitragssatz in 2060 um knapp 4,5 Prozent auf 48,8 Prozent senken (statt prognostiziert 53,3 %). Gleich blieben laut "Welt" aber die Gesamtausgaben für das Sozialsystem: Die soziale Absicherung verschlänge in 40 Jahren fast 30 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Wenig Effekt hätten einmalige Zuwanderung oder gezieltes Produktivitätswachstum. Letzteres ändere nichts an der zunehmenden Altersstruktur in der Bevölkerung.

Der Bundesrechnungshof forderte daher die Bundesregierung auf, ihre politischen Ziele Beitragssatzstabilität, Erhaltung des Versorgungsniveaus und Verzicht auf Steuererhöhungen und auf Neuverschuldung aufzugeben.

Zukunftsfest werde das Sozialsystem laut Einschätzungen des Bundesrechnungshofs nur durch:

  • höhere Beiträge
  • weniger Leistungen
  • Bundeszuschüsse
  • politisches Programm für alle Sozialversicherungszweige

BMAS und BMF sehen keinen Handlungsbedarf

Die Ministerien für Finanzen (BMF) und Arbeit und Soziales (BMAS) sehen Medienberichten zufolge "keine Veranlassung für eine sozialpolitischen Kurskorrektur. Derartige Langfristprognosen seien stets mit großen Unsicherheiten verbunden ... Der Bericht zeige nichts Neues auf". Aus den Modellrechnungen ließen sich allenfalls "Anhaltspunkte für Handlungsbedarf" ableiten, zitiert das Handelsblatt aus einer gemeinsamen Stellungnahme beider Ministerien auf den BRH-Bericht.

In der FDP scheint sich jedoch Widerstand zu regen. "Der Bericht des Bundesrechnungshofes muss für uns alle ein Weckruf sein", mahnte der Haushaltspolitiker Karsten Klein (FDP) in der "Welt". "Alle demokratischen Parteien müssen sich dieser Herkulesaufgabe stellen", sagte Kollege Christian Haase (CDU) dem Handelsblatt.

Eine Herkulesaufgabe

Die Herstellung von Generationengerechtigkeit bei gleichzeitiger Tragfähigkeit eines Sozialsystems und die Wahrung unseres Lebensmodells als Selbstständige – diese Aufgabe ist seit Jahrzehnten bekannt und wird von Legislatur zu Legislatur verschoben. Aufgrund des Nichtstuns werden Projektionen werden immer alarmierender und deprimierender zugleich.

All das erinnert an den unvorstellbar großen Stall des Augias, der schon lange nicht mehr ausgemistet worden war. Der griechische Held Herkules schaffte es der Legende nach an einem Tag. Für uns Selbstständige wäre es schon ein Gewinn, wenn die Regierung die Augen vor dem Reformbedarf nicht verschließen würde – drei Jahre Zeit hätten sie.

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