Die finalen Verhandlungen über die EU-Richtlinie zur Plattformarbeit können beginnen: Die Staaten haben sich im Ministerrat auf eine Position geeinigt – ohne Deutschland, das sich enthielt. Für Selbstständige stellen sich viele Fragen.
Noch schnell, bevor Spanien ans Ruder kommt: So könnte man die Einigung zur geplanten Richtlinie zur Plattformarbeit auffassen, die am Montag im Rat der Europäischen Union in den letzten Tagen der schwedischen Ratspräsidentschaft zustande kam. Offensichtlich unter Schmerzen auf allen Seiten haben sich die Arbeitsminister/innen der EU-Staaten (beziehungsweise deren Vertreter/innen – für Deutschland nahm Staatssekretär Rolf Schmachtenberg teil) auf einen Entwurf für die Richtlinie geeinigt. Nun können die sogenannten Trilog-Verhandlungen mit Parlament und Kommission beginnen, in denen dann die endgültige Version der Richtlinie ausgehandelt wird. Danach müssen die Vorgaben in nationales Recht umgesetzt werden.
Drei aus sieben statt zwei aus fünf
Der Gesetzesentwurf des Ministerrats liegt nah am Entwurf der Kommission, der seit Dezember 2021 vorliegt und den wir sehr kritisch sehen. Noch kritischer sehen wir allerdings den Entwurf, auf den sich das EU-Parlament im vergangenen Dezember einigte. Ihn haben wir hier unter die Lupe genommen.
Wichtigste Änderung des Rats- gegenüber dem Kommissionsentwurf ist, dass die von der Kommission vorgeschlagenen fünf Kriterien für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis auf sieben Kriterien aufgeteilt werden und eine abhängige Beschäftigung bei Erfüllen von drei von sieben statt zwei von fünf Kriterien angenommen werden soll.
Wann ist jemand "offensichtlich" kein Plattformbeschäftigter?
Außerdem soll die Vermutung nur arbeitsrechtlich gelten, nicht in anderen Rechtsgebieten wie Steuer-, Straf- und Sozialversicherungsverfahren – allerdings dürfen die Mitgliedstaaten das abweichend regeln. In den Erwägungsgründen heißt es sogar, das solle diese "in keiner Weise daran hindern", das zu tun. Zudem können die Mitgliedstaaten nationalen Behörden einen Ermessensspielraum einräumen, diese Vermutung nicht anzuwenden, wenn offensichtlich ist, dass die betreffende Person kein „Plattformbeschäftigter“ ist. Den gesamten Entwurf des Ministerrats könnt ihr hier nachlesen.
Zugeständnisse auf allen Seiten
Die Einigung der Mitgliedstaaten hatte sich bereits im Frühjahr angedeutet. Dabei mussten alle Seiten Zugeständnisse machen. Auf der einen Seite stehen Staaten, die eine weitergehende Regelung fordern. Das Lager wird angeführt von Spanien, das sich enttäuscht vom Kompromiss zeigte und sich bei der Abstimmung enthielt. Spaniens Arbeitsministerin kündigte an, dass ihr Land zusammen mit anderen Ländern eine Erklärung veröffentlichen wolle, in der eine stärker regulierende Richtlinie gefordert werde. Womöglich kam es zur aktuellen Einigung auch deshalb, weil Spanien im Juli die Ratspräsidentschaft übernimmt.
Die Schweden, die als Ratspräsidenten den Kompromiss moderierten, fanden sich bislang zusammen mit anderen nördlichen Staaten, Frankreich, Polen und weiteren Ländern unter den Kritikern der Richtlinie. Sie setzten sich für eine zurückhaltende Regelung ein. Deutschland kann sich auf keine Position festlegen, da sich die Ampel uneins ist. Wie Spanien, Estland, Griechenland und Lettland enthielt sich Deutschland deshalb bei der Abstimmung. Der "Tagesspiegel" zitiert Staatssekretär Schmachtenberg: "Auf die deutsche Enthaltung ist in diesem Fall Verlass, wir werden uns weiterhin enthalten müssen."
Geht es um die Lieferbranche oder um zig Millionen?
Der deutsche Schattenberichterstatter im Europäischen Parlament, Dennis Radtke von der EVP, kritisierte die deutsche Enthaltung, wie der "Tagesspiegel" berichtet. Es sei beschämend, dass sich Deutschland bei "einer der wichtigsten EU-Richtlinien des Jahrzehnts" enthalten habe. Auch der zuständige EU-Arbeitskommissar Nicolas Schmit betonte die große Bedeutung der Richtlinie. Die Auswirkungen von technologischem Fortschritt auf die Arbeitswelt sei nicht nur in Europa, sondern "weltweit ein Thema".
Einerseits wird die Bedeutung und die Dimension des Gesetzesvorhabens betont – andererseits wird wieder der Eindruck erweckt, es ginge um Lieferfahrer/innen. "Jugendliche auf Fahrrädern" seien keine Unternehmer, zitiert der "Tagesspiegel" die spanische Arbeitsministerin Yolanda Pérez Díaz. Nur: Wenn als Begründung tatsächlich die immer gleichen, womöglich prekär beschäftigten Kurierfahrerinnen und ähnlichen Dienstleister aus überschaubaren Branchen herhalten müssen – wie passt das zusammen mit der angeblichen Tragweite und den weiterhin als Begründung herangezogenen 28 Millionen Plattformbeschäftigten, von denen womöglich 5,5 Millionen scheinselbstständig sein sollen? Auf die wacklige Grundlage dieser Zahlen haben wir bereits hingewiesen.
Selbstständige wurden nicht angehört
Angesichts dieser Zahlen stellt sich die Frage, ob die Plattformrichtlinie nicht doch viel weiter zielt, als die immer wieder herangezogenen Uber-Fahrer vermuten lassen sollen. Wir fragen uns, wie viel Rechtsunsicherheit die interpretierbaren Kriterien und die weiten Definitionen bringen werden. Da spricht es uns aus der Seele, wenn das Portal "Euractiv" berichtet, der französische Arbeitsminister Olivier Dussopt habe deutlich gemacht, es sei noch mehr Arbeit nötig, um zu "garantieren" dass die Beschäftigungsvermutung nicht für die "echten Selbstständigen" gelten solle.
Vielleicht hätte die Kommission einfach mal bei den Selbstständigen selbst nachfragen sollen? In den Erwägungsgründen wird darauf hingewiesen, wie die Kommission ausführlich die Sozialpartner zu dem Gesetzesvorhaben anhörte. Nun ja, Sozialpartner: Arbeitgeber und Gewerkschaften eben, aber Selbstständige bleiben außen vor.
Noch der beste der bisherigen Entwürfe
Außen vor bleiben nun viele, wenn Rat, Parlament und Kommission in die finalen Verhandlungen gehen. Dieser sogenannte Trilog wird oft wegen mangelnder Transparenz kritisiert. In diesem Prozess hoffen die Gewerkschaften nun, das Gesetzesvorhaben wieder weiter in die Richtung des Parlamentsentwurfs zu drehen. Angesichts dieser Alternative wünschen wir uns, dass der Entwurf des Ministerrats möglichst weitgehend bestehend bleibt. Denn er ist aus Sicht von Selbstständigen bisher das geringste Übel.
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