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IAB-Studie Scheinselbstständigkeit rückläufig, vor allem Geringqualifizierte und Berufseinsteiger gefährdet

Das der Bundesagentur für Arbeit nahe stehende Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat im Jahr 2014 die Verbreitung von Scheinselbstständigkeit untersucht und die Ergebnisse diese Woche veröffentlicht. Bereits vor 20 Jahren (1995) hatte man eine Studie zur gleichen Fragenstellung und mit gleicher Methodik durchgeführt, so dass Aussagen über die zeitliche Entwicklung möglich sind.

Potenzielle Scheinselbstständigkeit nach Wirtschaftszweigen

Dabei wurde das Risiko einer Scheinselbständigkeit anhand von zwei Kritierienkatalogen untersucht. Ab einer bestimmten Anzahl erfüllter Kritieren wurde auf eine potenzielle Scheinselbstständigkeit geschlossen.

Wichtig ist zu verstehen, dass keine Aussagen über eine tatsächliche Scheinselbstständigkeit getroffen werden (können), da die dafür nötige Gesamtschau und Abwägung der Kriterien nicht mal eben im Rahmen einer Telefonbefragung durchgeführt werden kann: „Die Rechtslage ist komplex, und die Frage, ob ein scheinselbstständiges Vertragsverhältnis vorliegt, ist letztlich nur auf Basis einer richerlichen Einzelfall-Entscheidung abschließend zu klären“. Insofern sind die im folgenden genannten Zahlen nur eine Indikation und wir sprechen deshalb von "potenziell Scheinselbstständigen".

Scheinselbstständigkeit im Nebenberuf hat um 52-62% abgenommen

Das auffälligste Ergebnis: Bei Nebentätigkeiten hat die Zahl potenziell Scheinselbstständiger um 52% von 329.000 af 158.000 abgenommen. Bei dem alternativen Kritierenmodell sogar um 62% von 901.000 auf 344.000.

Auch im Hauptberuf deutliche Abnahme relativ zur Zahl der Soloselbstständigen

Autor Hans Dietrich

Bei den hauptberuflich Selbstständigen hat die absolute Zahl der potenziell Scheinselbstständigen zwar von 170.000 auf 235.000 (beim Alternativmodell von 410.000 auf 436.000) zugenommen, also je nach Methode um 6 bis 38%.

Gemessen an der stärker angestiegenen Grundgesamtheit hat der Anteil der potenziell Scheinselbstständigen jedoch abgenommen: „Der Zuwachs der Zahl scheinselbstständiger Beschäftigter bleibt nach beiden Abgrenzungsmodellen deutlich hinter der Anzahl der Solo-Selbstständigen zurück.“

Im Jahr 1995 waren von den 3,2 Millionen Selbstständigen 45% oder 1,44 Millionen soloselbstständig. 2015 gab es 3,8 Millionen Selbstständige, von denen 56% oder 2,13 Millionen soloselbstständig waren. Das entspricht einem Zuwachs der Zahl der Soloselbständigen um 48%.

Geringqualifizierte, Berufseinsteiger und Langzeitarbeitslose gefährdet

Die beiden Forscher, Hans Dietrich und Alexander Patzina, untersuchten auch, wer ein erhöhtes Risiko hat, potenziell scheinselbststädig zu sein: Dieses Risikos war bei

  • Coautor Alexander Patzina

    Erwerbstätige unter 25 Jahren um 6% höher als bei der Referenzgruppe der 35-44-Jährigen

  • Fehlen eines beruflichen Abschlusses 3% höher
  • Eine längere Arbeitslosigkeit erhöhte das Risiko um 1% pro Jahr der Arbeitslosigkeit
  • Ein Migrationshintergrund erhöhte das Risiko um 2%
  • Frauen hatten ein um 2% höheres Risiko als Männer
  • Genrell stieg das Risiko mit der Größe der Auftraggebebetriebe
  • Überraschend: Bei kürzeren Vertragsdauern (1 Monat bis zwei Jahre) war die Gefahr einer potenziellen Scheinselbstständigkeit höher als bei längerer Beauftragung

Besonders betroffene Branchen beschäftigen viele geringer Qualifizierte

In Handel, Transport, Gastronomie und bei „sonstige Dienstleistungen“ stellte das IAB einen höheren Anteil potenziell scheinselbstständiger (gemessen an allen) Erwerbstätigen fest (vergleiche Abbildung). Am höchsten lag er nach beiden Kriterienkatalogen im Bereich Hotel und Gastronomie.

Die Forscher leiten daraus die Empfehlung ab, die Prüfungen auf Scheinselbstständigkeit im Bereich der identifizierten Risikogruppen zu intensivieren.

Scheinselbstständigkeits-Gefährdete verdienen 20% weniger

Im Schnitt erzielen die als potenziell scheinselbstständig klassifizierten Personen 20% weniger als Angestellte und 22% als Selbstständige mit vergleichbarer Tätigkeit.

Aus welchen Kritieren wurde eine potenzielle Scheinselbstständigkeit abgeleitet?

Den ersten, engeren Kritierienkatalog bezeichnen die Forscher als „BAG-Modell“ und gehen von einer potenziellen Scheinselbständigkeit aus, wenn 3 von 5 Negativkriterien erfüllt sind. Dabei wurde gefragt ob es Weisungen hinsichtlich Art, Zeit und Ort der Leistungserbringung gibt, eine Zusammenarbeit mit Mitarbeitern des Auftraggebers stattfindet und Arbeitsmittel des Auftraggebers genutzt werden.

Beim zweiten, weitergehenden Negativkriterienkatalog wurde auf eine potenzielle Scheinselbstständigkeit geschlossen, wenn 5 von 7 Negativkriterien vorlagen: Keine eigenen Mitarbeiter, Geschäftsräume und Betriebskapital, kein eigener Kundenstamm, keine zeitlich-örtliche Freiheit, keine freie Preisgestaltung, nur ein Auftraggeber (> 80% der Umsätze).

Kriterien von vor 20 Jahren werden Selbstständigkeit von heute nicht mehr gerecht

Das Fehlen eigener Mitarbeiter, also die Solo-Selbstständigkeit, wird hier also bereits als ein Negativkriterium für eine Scheinselbsständigkeit gewertet und auch viele andere Kriterien entsprechen nicht mehr ganz der Realität selbstständiger Wissensarbeiter, die eigene Geschäftsräume oder Betriebskapital nicht benötigen. Das ist einerseits verständlich, da identische Kriterien wie im Jahr 1995 Voraussetzung für eine Vergleichbarkeit sind. Andererseits sollte bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden, dass durch die technische Entwicklung und Digitalisierung die Notwendigkeit eigener Räume, Mitarbeiter usw. nicht mehr im gleichen Maße besteht.

Insofern sehen wir die Studie als Bestätigung dafür, dass Scheinselbstständigkeit keineswegs ein wachsendes Problem ist und eher auf bestimmte Branchen und Risikogruppen im Arbeitsmarkt konzentriert ist, auf die sich die Bemühungen der Regierung konzentrieren sollten. Darauf sollten wir hinweisen, wenn sich Medien oder Politiker (wie in letzter Zeit oft bei Studien geschehen) von den Fakten entfernen und gestützt auf die Studie einen anderen Eindruck erwecken wollen.

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