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Lesetipp Insellösungen gegen Scheinselbstständigkeit Wie das BMAS für einzelne Berufsgruppen Rechtssicherheit schaffen möchte

In einem Dialogprozess haben Ministerien und Verbände eine Regelung erarbeitet, wie Ärzte im Notdienst weiterhin selbstständig arbeiten können. Sie zeigt exemplarisch, wie das Arbeitsministerium BSG-Urteile und Wirklichkeit unter einen Hut bringen will – bald auch in der Bildungsbranche?

Großer Riss, kleines Pflaster: Statt das Problem Scheinselbstständigkeit grundlegend anzugehen, wird an einzelnen Stellen notdürftig geflickt

Was ist Selbstständigkeit? Welche Tätigkeiten können selbstständig ausgeführt werden? Wie müssen Auftragsverhältnisse ausgestaltet sein, damit sie nicht als abhängige Beschäftigung gelten? Diese Fragen beschäftigen Selbstständige schon lange. In jüngster Zeit haben sie noch einmal eine ganz neue Brisanz bekommen. Das Bundessozialgericht (BSG) spricht unserer Ansicht nach immer extremere Urteile, die die Selbstständigkeit ganzer Berufsgruppen in Frage stellen.

Zum einen hat das BSG im sogenannten "Herrenberg-Urteil" eine Entscheidung gefällt, aus der die Sozialversicherungsträger eine Anti-Selbstständigen-Offensive gemacht haben, die gravierende Folgen für alle Bereiche hat, in denen unterrichtet und gelehrt wird. Zum anderen ist mit dem "Pool-Ärzte-Urteil" vom Oktober 2023 ein wichtiger Teil der allgemeinen Gesundheitsversorgung betroffen.

Wie sich das BMAS Lösungen vorstellt

Es fällt auf: Hier sind elementare Aufgaben des Staats – einmal die Gesundheitsversorgung, auf der anderen Seite die öffentliche Bildung – bedroht. Und in dieser Situation besteht beim Arbeitsministerium (BMAS) erstaunlicherweise die Bereitschaft, etwas zu ändern. Es werden allerdings Sonderregeln für Einzelbereiche geschaffen, anstatt das gesamte Problem – die Rechtsunsicherheit bei selbstständiger Tätigkeit – anzugehen.

Für die Pool-Ärzt/innen hat in den vergangenen Monaten ein "Dialogprozess" stattgefunden: Vertreter von BMAS und Gesundheitsministerium (BMG), der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), einigen Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und Ärzteverbänden erarbeiteten in mehreren Treffen ein Ergebnispapier. Dies legt Bedingungen fest, unter denen Pool-Ärzte weiterhin selbstständig tätig sein können. Bemerkenswert daran: Der Prozess begann bereits im Sommer 2023, noch bevor das Urteil des BSG gefällt war. Das Ergebnis zeigt exemplarisch, wie Lösungen des BMAS auch in anderen Bereichen wie der Bildungsbranche aussehen könnten.

Was ist überhaupt ein "Pool-Arzt"? Die KVen sind verpflichtet, auch außerhalb der Sprechstunden von ärztlichen Praxen einen Notdienst sicherzustellen. Wer außerhalb der üblichen Sprechzeiten ärztliche Hilfe braucht, ohne gleich ins Krankenhaus zu müssen, kann diesen Notdienst rufen. Vertragsärztinnen und -ärzte – also diejenigen, die eine Zulassung der Gesetzlichen Krankenkassen haben – sind verpflichtet, sich für die Notdienste zur Verfügung zu stellen.

Dennoch gibt es oft nicht genug Personal für die Dienste. Andere Ärztinnen und Ärzte, zum Beispiel solche im Ruhestand, können freiwillig am Notdienst teilnehmen – sie bilden dann den sogenannten Pool. Die KVen haben bei Engpässen auf die Pool-Ärzte zurückgegriffen und den Einsatz im Notdienst in der Regel als selbstständige Tätigkeit verstanden. Das ist mit dem Pool-Ärzte-Urteil ins Wanken geraten.

Um Pool-Ärzte auch weiterhin rechtssicher als Selbstständige einsetzen zu können, hat der Dialogprozess nun drei Voraussetzungen festgelegt:

  1. Die Ärzt/innen bekommen keine Pauschale, sondern rechnen wie in einer eigenen Praxis ab und erhalten nur tatsächlich erbrachte Leistungen vergütet. (Siehe jedoch unten.)
  2. Die Ärzt/innen zahlen Nutzungsentgelte für die genutzten Räume, Personal und Betriebsmittel. Auch wenn sie keine Patienten behandeln, müssen sie das Nutzungsentgelt bezahlen.
  3. Die Ärzt/innen können sich von einer anderen entsprechend qualifizierten Person vertreten lassen.

Die Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein. Für Vertragsärzte, also diejenigen, die die Dienste ohnehin leisten müssen, gelten diese Kriterien nicht. Bei ihnen gelten die Dienste in jedem Fall als selbstständig. Das soll auch – vermutlich vom Gesundheitsministerium – gesetzlich geregelt werden.

Kriterien nehmen BSG-Urteil auf

Die Kriterien nehmen unmittelbar einzelne Punkte des BSG-Urteils auf. Dort war argumentiert worden, dass der Arzt einen Stundenlohn erhalten habe, keinen Verdienstausfall zu befürchten gehabt habe und daher keinem unternehmerischen Risiko ausgesetzt gewesen sei – nun ist Kriterium, dass keine Pauschale erbracht, sondern nur tatsächlich erbrachte Leistungen vergütet werden. Ein weiteres Argument des BSG war, dass der Arzt in von der KV angemieteten Räumen tätig und auf die dortige materielle Ausstattung angewiesen gewesen sei. Dem trägt nun das Kriterium, dass Nutzungsentgelte gezahlt werden müssen, Rechnung. Auch war im vom BSG entschiedenen Fall das Recht, den Dienst an einen anderen Arzt zu delegieren, erheblich eingeschränkt. Dies war für die Richter ein weiterer Entscheidungsgrund gegen die Selbstständigkeit. Die neuen Kriterien schreiben nun das Delegationsrecht ausdrücklich fest.

Keine Pauschale, aber "Sicherstellungspauschale"

Die Vereinbarung enthält die Möglichkeit für die KVen, den Pool-Ärzten eine "Sicherstellungspauschale" zu zahlen, damit sie die Dienstbesetzung garantieren können. Für diese Pauschale gilt: Sie wird im Voraus für einen bestimmten Zeitraum, für den die Ärztin oder der Arzt sich zur Teilnahme am Sicherstellungsauftrag der KVen verpflichtet, unabhängig von der Vergütung der konkret geleisteten Dienste gezahlt. Über die Höhe der Sicherstellungspauschale wird nichts gesagt. Sie könnte dazu genutzt werden, die Unsicherheit über die Höhe des Verdienstes, die durch die Einzelabrechnung entsteht, zu kompensieren.

An den Pool-Diensten dürfte nun einiges aufwändiger werden: Die Ärzte müssen einzeln abrechnen, anstatt Pauschalen zu erhalten. Das spricht einerseits für das unternehmerische Risiko, das nun für Ärzte höher ist: Sie können nur das abrechnen, was sie tatsächlich leisten. Andererseits besteht bei vielen selbstständigen Tätigkeiten auch gerade eine Chance darin, gute Honorare durch gut verhandelte Pauschalen zu erzielen. In jedem Fall ist der bürokratische Aufwand bei Einzelabrechnungen sehr viel größer.

KVen dürfen Vertretungen vermitteln

Ähnliches gilt für die Nutzungsentgelte. Auch sie werden den bürokratischen Aufwand erhöhen. Dem Ergebnispapier zufolge müssen die Nutzungsentgelte "nicht notwendig kostendeckend", dürfen aber auch "nicht nur symbolisch" sein.

Das Kriterium, dass der Dienst auch von einer anderen Person übernommen werden kann, entspricht üblichen Kriterien für Selbstständigkeit. Inwieweit es realistisch ist bei in der Regel allein tätigen Ärzten, sei dahingestellt. In anderen Branchen hatte die Deutsche Rentenversicherung eine Selbstständigkeit mit der Begründung abgelehnt, dass die Vertretungsregelung in der Praxis zu selten genutzt wurde. Außerdem legt das Ergebnispapier fest, dass die Vertretungskraft auch von der KV "oder sonstigen Dritten" vermittelt werden kann.

Ziel branchenübergreifend höhere Rechtssicherheit

Während der Dialogprozess für die Pool-Ärzte abgeschlossen ist, ist ein weiterer im Gange: Im BMAS werden Fachgespräche geführt, um die Folgen des "Herrenberg-Urteils" aufzufangen. Auch hier werden in Arbeitsgruppen Konzepte erarbeitet, unter welchen Kriterien Lehrende in allen Bereichen auf selbstständiger Basis beauftragt werden können. Bisher wurden die Lehrenden nicht beteiligt an dem Prozess. Wir setzen uns mit aller Kraft dafür ein, dass sich dies ändert und wir an dem Prozess beteiligt werden. Hier geht es um eine große Anzahl Betroffener und großenteils auch um öffentliche Träger.

Dazu sagt VGSD-Vorstand Andreas Lutz: "Wir wollen uns im Interesse der selbstständigen Trainer/innen konstruktiv an der Suche nach einer Lösung für den Bildungsbereich beteiligen und dafür sorgen, dass möglichst Recht und Rechtsanwendung an die Wirklichkeit und nicht die Wirklichkeit an praxisferne BSG-Urteile angepasst werden müssen. Vor allem wollen wir den Schritt von Insellösungen zu einer branchenübergreifend höheren Rechtssicherheit schaffen."

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