Agile Arbeitsmethoden stehen für die DRV schnell im Verdacht der Scheinselbstständigkeit – in der Privatwirtschaft. Nun zeigt sich: Sie selbst lässt Fremdpersonal in Projekten auf diese Weise arbeiten. Wir haben Fragen.
Diese Vergabe ist selbst für die öffentliche Hand außergewöhnlich groß: Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV) hat im Sommer Rahmenverträge für IT-Unterstützung mit einem Gesamtvolumen von 414 Millionen Euro geschlossen. Die Vergabe war aufgeteilt in fünf Lose. Zu den Projekten, für die die IT-Unterstützung benötigt wird, gehören: "STAV" (die Abkürzung steht für "Statusfeststellungsverfahren und Altersvorsorgepflicht für Selbstständige") und die Unterstützung von Pilotprojekten zum Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) – eine wichtige Rolle spielt dabei vermutlich das KI-Tool "Kira", mit dem die DRV Betriebsprüfungen beschleunigen will.
Einsatz von Freelancern nach bemerkenswerten Regeln
Statusfeststellungsverfahren, Altersvorsorgepflicht, "Kira" als künftiges KI-Tool bei Betriebsprüfungen – hier werden Selbstständige hellhörig. Denn es geht um Themen, die sie unmittelbar betreffen. Für diese Verfahren also heuert die DRV externe Unterstützung an – Selbstständige IT-Experten und Mitarbeiter von Dienstleistern. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Zumal die Regeln, nach denen sie dies tut, bemerkenswert sind:
- Die DRV setzt bei der Projektarbeit auf agile Arbeitsweisen.
- Die Verträge der DRV enthalten Personalbindungsklauseln, die eine höchstpersönliche Leistungserbringung erfordern.
- Die Laufzeit der Rahmenverträge beträgt vier Jahre, der Einsatz von Fremdpersonal je Person ebenfalls bis zu vier Jahre.
- Die Verträge sehen die Nutzung von hausinternen Tools vor.
- Geleistete Arbeitsstunden müssen penibel in einer vorgefertigten Tabelle dokumentiert werden.
Wird hier mit zweierlei Maß gemessen?
"Austausch von Personen nur aus zwingendem Grund"
All das sind für die DRV normalerweise Kriterien für Scheinselbstständigkeit und verdeckte Arbeitnehmerüberlassung. Bei ihr selbst offenbar nicht.
Auf den Vorgang aufmerksam gemacht hat uns VGSD-Mitglied Marcel Misch, der in seinem Blog mehrfach über die Vergabepraxis berichtet hat.
Die im Rahmen der 414-Millionen-Euro-Vergabe ausgeschriebenen Projekte laufen über 48 Monate, also vier Jahre. Arbeitnehmerüberlassung ist nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) für maximal 18 Monate zulässig – das könnte ein Grund sein, weshalb die DRV diese nicht in Betracht zieht. Während der Projekte ist das Fremdpersonal gegebenenfalls bis zu vier Jahre an die DRV gebunden. In den Dienstverträgen der DRV heißt es: "Der Austausch von Personen seitens des Auftragnehmers ist nur aus zwingendem Grund zulässig. Dieser ist schriftlich darzulegen und vom Auftraggeber zu genehmigen. Kein zwingender Grund liegt vor, wenn diese Personen für ein anderes Projekt/Aufgabe tätig werden sollen, es sei denn, dies dient den Interessen des Auftraggebers."
Im Rahmen einer früheren Ausschreibung wurden im Bieterverfahren Fragen zur Natur des Beschäftigungsverhältnisses an die DRV gestellt. Die DRV schloss eine Arbeitnehmerüberlassung aus. Dabei zeigt die Ausgestaltung – exklusive Bindung über einen langen Zeitraum – Experten zufolge Merkmale einer verdeckten Arbeitnehmerüberlassung.
Bieter fragen konkret nach
Wie bei einer früheren Vergabe sollen in der Projektarbeit hausinterne Arbeitsmittel genutzt werden: das Ticketsystem "Jira", das Unternehmens-Wiki "Confluence" und eine Datenbank für den Austausch von Konzepten beispielsweise. Es sollen Geschäftsanweisungen der DRV befolgt werden. In einem im Dezember 2023 vergebenen Projekt stellte ein Bieter im Bieterverfahren ungläubig die Frage: "Die von Ihnen im Rahmen des Projektes geforderte Leistungserbringung erfordert aus unserer Sicht agile Arbeitsweisen und eine intensive Zusammenarbeit gemischter Entwicklungsteams seitens des Auftraggebers und des Auftragnehmers. Können wir davon ausgehen, dass der Auftraggeber die Erbringung der ausgeschriebenen Leistungen dennoch ausschließlich im Wege einer Dienstleistungszusammenarbeit organisieren wird und eine Arbeitnehmerüberlassung explizit nicht in der vorliegenden Vergabe zu berücksichtigen ist?" Die Antwort der DRV lautete: "Ja, das ist korrekt."
Dabei ist es sonst die DRV selbst, die agile Arbeitsmethoden unter den Verdacht der Scheinselbstständigkeit stellt. Von den beiden Merkmalen für eine abhängige Beschäftigung, "Weisungsgebundenheit" und "Eingliederung", hat sie in ihrem Beurteilungsprozess die "Weisungsgebundenheit" bei Hochqualifizierten in den Hintergrund treten lassen und knüpft fast ausschließlich an der Eingliederung an. Zur Eingliederung schreibt sie auf ihrer Website zu den "fünf größten Irrtümern zum Statusfeststellungsverfahren": "Eine Eingliederung ist gegeben, wenn der Mitarbeiter eine (Teil-)Leistung innerhalb der vom Arbeitgeber vorgegebenen Organisationsabläufe erbringt, die dortigen Betriebsmittel nutzt und arbeitsteilig in den vorgegeben Strukturen mit anderem Personal zusammenarbeitet."
So klingt es im Rundschreiben der DRV
In einem Gemeinsamen Rundschreiben der Sozialversicherungen aus dem Jahr 2022, abzurufen auf der Website der DRV, werden agile Arbeitsmethoden als Indiz für eine abhängige Beschäftigung gewertet. Es heißt dort:
"Die Erwerbstätigkeit im Rahmen agiler Arbeitsmethoden oder einer projektbezogenen Arbeit spricht für eine abhängige Beschäftigung, schließt jedoch eine selbständige Tätigkeit nicht aus. Maßgebend ist, ob sich dadurch eine Einbindung in eine fremde Arbeitsorganisation ergibt und der Erwerbstätige Weisungen des Auftraggebers zu folgen hat, die die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit erheblich einschränken.
Bei vielen agilen Arbeitsmethoden findet ein arbeitsteiliges Zusammenwirken aller Teammitglieder in den Strukturen des Auftraggebers statt. Dabei erfolgen ständige Rückkoppelungen untereinander und es muss „Hand in Hand“ zusammengearbeitet werden. Die Teammitglieder haben häufig die gleichen Entscheidungskompetenzen und -verantwortlichkeiten. Für die Arbeitsleistung besteht regelmäßig ein Rahmenzeitplan o. ä.
Der Auftraggeber gibt in der Regel den Arbeitsort und die zu verwendenden Arbeitsmittel konkret vor. Darüber hinaus findet eine enge Einbindung in den Arbeitsprozess statt. Es werden regelmäßig fortlaufend Vorgaben zur Art und Weise der Auftragsbearbeitung erteilt. Dabei macht es keinen Unterschied, ob dem Team in der Gesamtheit Weisungen ausgesprochenen werden oder den Teammitgliedern einzeln. Zudem kann die Notwendigkeit konkreter Statusfeststellung von Erwerbstätigen Weisungen insbesondere in fachlicher Hinsicht gerade bei Hochqualifizierten bzw. Spezialisten erheblich eingeschränkt sein und gleichwohl den Erwerbstätigen immer noch funktionsgerecht dienend am fremdbestimmten Arbeitsprozess teilhaben lassen."
Exakte Dokumentation der Arbeitszeiten
Die DRV nutzt wie beschrieben einige Elemente der agilen Arbeitsweisen, schließt aber zugleich eine abhängige Tätigkeit im eigenen Haus aus. Dabei gibt sie sogar eine Tabelle für den genauen Leistungsnachweis der erbrachten Einzelleistungen vor – die eingesetzten Fachkräfte müssen exakt ihre Arbeitszeit dokumentieren.
Der Widerspruch zwischen dem Maßstab, den die DRV bei sich selbst und bei anderen anlegt, stieß Marcel auf. Er drehte den Spieß um und wandte sich an die DRV – mit Fragen, die er aus dem erst kürzlich erweiterten DRV-Fragebogen C0031 abgeleitet hat. Die Fragen schickte er an den für die Vergabestelle zuständigen Direktor und die für die Clearingstelle zuständige Direktorin. Er verlangte Auskunft auf der Basis des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG); seine Fragen schickte er am 4. August 2024 per Mail an die DRV. Der Eingang wurde bestätigt. Obwohl das IFG eine Frist von einem Monat vorsieht und Marcel im September eine Antwort anmahnte, hat er bis heute keine Auskunft von der DRV erhalten. Marcel berichtet uns auch von telefonischen Nachfragen bei der DRV, auf die er aber nur Ausflüchte zu hören bekommen habe.
Keine ANÜ trotz "Weisungen"?
Antwort bekam Marcel dagegen im Sommer aus der Vergabestelle auf eine Mail, in der er die Personalbindungsklausel in den Verträgen hinterfragte. Der Verfasser der Mail gab zu, dass es "im Rahmen der Beschaffung externer IT-Unterstützungsleistungen" zu einem "gewissen Spannungsverhältnis" zwischen dem Interesse der Dienstleister und dem des öffentlichen Auftraggebers komme. Die Vertragsgestaltung trage dem Rechnung. Eine grundsätzliche Dispositionsbefugnis sei unter "lediglich moderaten Einschränkungen möglich". Diese Einschränkung gehe jedoch "nicht über den Tatbestand eines Indizes" für eine verdeckte Arbeitnehmerüberlassung hinaus.
Weisungen erfolgten nach diesen Angaben stets nur auf fachlicher, projektbezogener Ebene und niemals im Rahmen einer arbeitsrechtlichen Direktion. Ein Austausch von Personal sei möglich, "wenn Consultants bspw. das Unternehmen verlassen". Im AÜG heißt es in § 1: "Arbeitnehmer werden zur Arbeitsleistung überlassen, wenn sie in die Arbeitsorganisation des Entleihers eingegliedert sind und seinen Weisungen unterliegen." Obwohl der Verfasser der E-Mail selbst den Begriff "Weisungen" verwendet, schließt er eine Arbeitnehmerüberlassung ausdrücklich aus.
Wir haben die DRV zusätzlich zu den Nachfragen von Marcel am Dienstag vergangener Woche selbst um Auskunft zu den Vorgängen gebeten. Die Stellungnahme der DRV steht noch aus.
Rechtssicherheit für private Unternehmen schaffen!
Offenbar geht es der DRV bei IT-Projekten genau wie der privaten Wirtschaft: Zeitgemäße Software-Entwicklung ist nur agil mit intensiver Kommunikation zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer möglich. Wir finden es gut, dass die DRV auf diese Weise ihre Software entwickelt. Nur gerät die DRV dabei leicht in Widerspruch mit den von ihr selbst aufgestellten Regeln – was in der Natur der Sache liegt, wenn man effektiv zusammenarbeiten will. Die DRV hat offenbar einen Weg gefunden, agile Arbeitsweisen vereinbar mit ihren eigenen Regeln zu machen. Nun sollte sie auch dafür sorgen, dass dies auch für private Unternehmen rechtssicher möglich ist.
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