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Online-Podium zur geplanten EU-Regulierung von Plattformarbeit "Um welche Berufe geht es hier eigentlich?"

Am Dienstag dieser Woche (11.7.23) begannen in Brüssel die Trilog-Verhandlungen über die EU-Richtlinie zur Plattformarbeit. Zeitgleich führte VGSD-Vorstand Andreas Lutz zu diesem Thema mit zwei Gewerkschafter/innen und einer Europa-Parlamentarierin der Grünen auf einem Online-Panel eine kontroverse Diskussion. Sie zeigte, wie die Auseinandersetzung über die Richtlinie typischerweise verläuft, und auch was deren Verabschiedung noch verhindern könnte. Hier sein Bericht.

Online-Panel zur EU-Regulierung von Plattformarbeit. Erste Reihe ganz links: Andreas Lutz vom VGSD, dann Moderatorin Melanie Wündsch, DGB-Referent Roman Kormann und dann Professorin Johanna Wenckebach. In der zweiten Reihe ganz links Andreas Wille vom BMAS, dann Katrin Langensiepen, Europa-Abgeordnete der Grünen

Eine ungewöhnliche Einladung

Zum Online-Panel eingeladen hatte das Deutsche Institut für Menschenrechte. Das DIMR und seine knapp 100 Mitarbeiter werden vom Deutschen Bundestag finanziert. Es begleitet und überwacht u.a. UN-Konventionen etwa zu Behinderten- und Kinderrechten. Es geht auch viel um Arbeitnehmer/innen-Rechte, zum Beispiel im Rahmen des Lieferkettengesetzes. Schon im Vorfeld der Diskussion bat ich die wissenschaftliche Mitarbeiterin und Moderatorin Melanie Wündsch darum, neben den typischen Plattformarbeitenden (Essens- und Personentransporte, Reinigung und Care-Arbeit) auch die Auswirkungen auf und berechtigten Interessen von gerne und freiwillig Selbstständigen mitzudenken, da auch deren Lebensentscheidung Respekt verdient. Dafür zeigte sie sich sehr offen.

Die anderen Diskussionsteilnehmerinnen waren Professorin Johanna Wenckebach (Direktorin des gewerkschaftsnahen Hugo Sinzheimer Instituts, Roman Kormann (beim DGB Referent für Digitale Arbeit) sowie die grüne MdEP Katrin Langensiepen, stellvertretende Vositzende des Ausschusses für Arbeit und Soziales im Europäischen Parlament. 

Sachstand ohne Wertung

Zunächst aber fasste Andreas Wille vom Bundesarbeitsministerium (BMAS) den Sachstand zur EU-Richtlinie zusammen. Wille ist dort Referent in der Abteilung "Digitalisierung – Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft". Das BMAS vertritt die Bundesregierung in dieser Angelegenheit in Brüssel. Die Bundesregierung ist sich bekanntermaßen uneins über die Richtlinie, weshalb er keine Wertung oder Aussage zur Position der Bundesregierung abgeben könne und nur etwas zum Richtlinien-Entwurf von Rat (Mitgliedsstaaten) und Kommission sagen könne, nicht zu dem des Parlaments. Er zitiert den Koalitionsvertrag, wonach digitale Plattformen eine Bereicherung für die Arbeitswelt seien, u.a. weil sie einen niedrigschwelligen (Wieder-)Einstieg in die Arbeitswelt ermöglichten, zugleich seien sie mit großen Herausforderungen verbunden. 

Der meistdiskutierte Punkt seien die Auswirkungen auf die Statusfeststellung. Dabei gehe es nicht darum, beruhigte Wille, dass Plattformarbeit nur noch von Angestellten verrichtet werden sollte. Die Scheinselbstständigkeits-Kriterien im Ratsentwurf beruhten auf der Auswertung höchstrichterlicher Urteile in den Mitgliedsstaaten und einer Zusammenstellung der am häufigsten verwendeten Scheinselbstständigkeits-Kriterien.

Die wichtigsten Unterschiede zwischen Kommissions- und Rats-Vorschlag

Zwischen dem ursprünglichen Kommissionsvorschlag und der vor wenigen Wochen verabschiedeten Rats-Fassung gebe es vier große Unterschiede:

  1. Die Kriterien seien weiterentwickelt und die Schwelle zur Auslösung von zwei auf drei erhöht worden (zugleich wurde allerdings auch die Zahl der Kriterien von fünf auf sieben verändert, so dass die Wahrscheinlichkeit steigt, eines oder mehrere zu erfüllen).
  2. Es gebe eine Klarstellung, dass die Vermutungsregelung nur im Arbeitsrecht, nicht aber automatisch auch im Sozial-, Steuer- und Strafrecht gelte. (Die Richtlinie fordert die Mitgliedsstaaten allerdings zu einer Anwendung insbesondere auch im Sozialrecht auf und die Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung scheint von der Anwendung der EU-Kriterien auch in Deutschland fest auszugehen.)
  3. Bei staatlicherseits veranlassten Statusfeststellungsverfahren steht es laut Rats-Version im Ermessen der prüfenden Beamten, die Vermutung anzuwenden oder nicht, sofern von vorn herein klar sei, dass der Selbstständige nach nationalem Recht kein Plattformarbeiter ist.
  4. Wenn kein Vertragsverhältnis mit der Plattform, sondern nur einem vorgelagerten Vermittler bestehe, sollen Selbstständige laut Rat so behandelt werden, als hätten sie direkt mit der Plattform einen Vertrag geschlossen.

Alles ist gut?

Ich stellte zwei Rückfragen an Andreas Wille: Wie verträgt sich die Aussage, es gehe nicht darum, dass Plattformarbeit nur noch von Angestellten verrichtet werden könne, damit, dass die der Richtlinie zugrundeliegende EU-Studie auf Deutschland heruntergerechnet von 1,3 Millionen zu reklassifizierenden (also: Schein-) Selbstständigen spricht, was zwei Drittel aller deutschen Soloselbstständigen beträfe? Wille reagiert darauf, in dem er seine Aussage wiederholt und dann sagt, die Zahlen könne er nicht kommentieren, weil sie von der EU stammten. Zuvor hatten er und andere Redner diese Zahlen allerdings selbst zitiert, um das Ausmaß des "Problems" zu verdeutlichen.

Sind die EU-Zahlen also falsch? Dann wäre das tatsächliche Problem viel kleiner als gedacht und man dürfte sie nicht mehr kritiklos zitieren und sich auf diese Weise zu eigen machen. Oder sind die Zahlen richtig? Dann wäre unsere Sorge berechtigt und ich würde gerne erfahren, welche Berufsbilder und Branchen genau reklassifiziert werden sollen, um über diese im Detail zu diskutieren. (Wahrscheinlich trifft ja beides zugleich zu: Überhöhte Zahlen und viele Kollateralschäden.)

Noch mehr Verfahren und Unsicherheit?

Meine zweite Rückfrage an den BMAS-Vertreter: Wenn die Kriterien, wie von ihm zuvor erwähnt, die Auslösung eines Statusfeststellungsverfahrens deutlich vereinfachen, führt dies nicht zu einer noch stärkeren Zunahme von Statusfeststellungsverfahren in Deutschland? Und wie soll das angesichts des noch immer papiergebundenen Verfahrens (je neun Seiten Fragebogen für Auftraggeber und -nehmer zuzüglich Anlagen) bewerkstelligt werden? Die Präsidentin der Rentenversicherung hatte erst vor Kurzem erkennen lassen, dass sich an dem Papierverfahren inhaltlich nichts ändern solle. Antwort Andreas Wille: "Zum Verfahren werde ich nichts sagen." (Seine Einsilbigkeit sagt einiges darüber, wie strittig das Thema innerhalb der Ampel-Koalition ist. An anderer Stelle gibt sich Wille gesprächiger.)

Mit den gleichen Fragen habe ich in der Podiumsdiskussion auch meine anderen Gesprächspartnerinnen konfrontiert, denn es ist ja schon wichtig, an wen genau sich ein Gesetz richtet und ob es nun 5 Prozent oder 65 Prozent der Soloselbstständigen betrifft. Ich betonte, dass wir für einen guten Schutz typischer Plattformtätigkeiten sind, aber uns die extrem breite Definition von Plattformarbeit beunruhigt. Eine inhaltlich befriedigende Antwort erhielt ich auch von ihnen nicht, obwohl sich dankenswerter Weise die Moderatorin einschaltete und fragte: "Über wen sprechen Sie? Für mich scheint es zwei Gruppen von Personen zu geben. Sozial schutzbedürftige Plattformarbeiter einerseits, andererseits Selbstständige, die sich sorgen, dass sie mitgemeint sind, obwohl sie sich nicht als prekär sehen. Das Problem ist dann ja eher das einer Schein-Anstellung."

Gewerkschaften wollen Plattformarbeitende aktiv ansprechen 

Roman Kormanns antwortete angelehnt an Wille, es gehe nicht um das Ende der Solo-Selbstständigkeit, gemeint seien "nur" Scheinselbstständige – um dann wieder auf die EU-Zahlen zu verweisen. Auch die Vermutungsregelung, die zu einer sofortigen Anstellung führt, begrüßte er. Es klang bei ihm, als handle es sich "nur" um eine Beweislastumkehr und keinen Automatismus, was mich irritierte, denn ich verstehe den Richtlinienentwurf anders. Wichtig für Kormann ist vor allem, dass die Gewerkschaften die Möglichkeit (sprich Mitarbeiterdaten) erhalten, um auf die bisherigen Auftragnehmer aktiv zuzugehen.

Professorin Johanna Wenckebach vom DGB-nahen Sinzheimer-Institut bezog sich ebenfalls auf die EU-Zahlen, um zu belegen, wie viele Betroffene es gebe, um dann im Folgenden auf die schlechten Arbeitsbedingungen von Lieferfahrern einzugehen. Auf meinen Hinweis, dass diese laut einer anderen BMAS-finanzierten Studien in Deutschland inzwischen alle angestellt seien, gab sie mir Recht, erwiderte aber, dass die Arbeitsbedingungen noch immer schlecht seien und es ja nicht nur um Deutschland gehe. Konfrontiert mit den von ihr zuvor selbst zitierten EU-Zahlen sagte sie, man solle diese nicht so ernst nehmen!

So tun, als würde es überhaupt nicht um uns gehen

Meine Reaktion: Wir haben uns von Beginn der Diskussion über Plattformarbeit dafür eingesetzt, für Branchen mit vielen sozial Schutzbedürftigen gezielte Lösungen zu suchen. Die Kriterien sollten aber mit dem gesunden Menschenverstand und der Selbsteinschätzung der Betroffenen einigermaßen in Übereinstimmung gebracht werden. Ich zählte die in der BAGSV organisierten Branchen auf und nannte IT-Selbstständige als Beispiel, weil deren Status besonders häufig in Frage gestellt wird, obwohl sie in aller Regel nicht sozial schutzbedürftig sind.

Die Strategie der Gesprächspartner/innen: Sie ignorierten in ihren Redebeiträgen die extrem breite Definition von Plattformarbeit in der Richtlinie und auch in der EU-Studie, sondern sprachen nur von den sozial schutzbedürftigen Berufen, als ginge es nur um diese und als wollte ich deren Schutz in Frage stellen. Auch mein Hinweis, dass die Verunsicherung unserer Auftraggeber/innen, die durch die EU-Richtlinie noch zunimmt, im hochqualifizierten Bereich nicht zu dauerhafter sozialversicherungspflichtiger Anstellung, sondern zur einer Zunahme von Leiharbeit und der Abwanderung von Projekten und Wertschöpfung ins Ausland führt, stieß auf taube Ohren.

Welches Narrativ setzt sich durch? Nicht: Welches ist wahr?

Wenckebach und Kormann sprachen von einem falschen Narrativ, das verbreitet würde (womit sie wohl mich meinten), so als ginge es darum, wer die bessere Geschichte erzählen kann. Auf mein Angebot, die ihrem und unserem Narrativ zugrundeliegenden Fakten gemeinsam zu prüfen, gingen sie nicht ein. "Hier gut, dort böse, aber bitte nicht überprüfen", war mein Eindruck. 

Und die grüne Europaabgeordnete Katrin Langensiepen? Die gerade gestarteten Trilog-Verhandlungen zur EU-Richtlinie sollen ihr zufolge bis Ende November, also noch während der spanischen Ratspräsidentschaft, abgeschlossen werden – mit Blick auf die Wahlen zum EU-Parlament im Frühjahr. Das sei sehr ambitioniert, sagt Langensiepen, vor allem auch in Hinblick darauf, dass in zwei Wochen in Spanien und im weiteren Verlauf in den Niederlanden neu gewählt werde. Ein Regierungswechsel in Spanien weg von der aktuellen rot-grünen Regierung, fürchtet sie, könnte das Ende der Richtlinie bedeuten, weil Spanien bisher die treibende Kraft hinter der EU-Richtlinie gewesen sei.

Eulen nach Athen tragen

Langensiepen outet sich als Gewerkschaftsmitglied und großer Fan der Richtlinie. Was die beiden Gewerkschafter/innen gesagt hatten, sei wie "Eulen nach Athen" zu tragen. Ihr Vater sei selbstständig gewesen, hätte zeitweise sein Einkommen mit Hartz IV aufstocken müssen. Auch habe sie selbst vergeblich versucht, über Plattformen an fair bezahlte Übersetzungsaufträge zu kommen. Es gehe bei der Richtlinie um den Schutz von Arbeitnehmer/innen. Wir redeten über Menschen, die sich nicht wehren könnten, weil sie keine Gewerkschaft im Rücken haben. Es sei normal, dass die Richtlinie so breit formuliert sei, man wolle eben niemand übersehen. Auch von ihr kein Wort zu unserer Befürchtung, dass es durch die Richtlinie in Deutschland zu weiterer Verunsicherung unter unseren Auftraggebern und zu erheblichen Kollateralschäden unter freiwillig Selbstständigen kommen wird.

Entscheidende Fragen bleiben offen

Eine an mich aus dem Podium gestellte Frage ermöglicht mir gegen Ende ein Schluss-Statement, in dem ich nochmals einen faktenbasierten Dialog einforderte und eine Antwort auf die Fragen: Welche Berufe und wie viele Soloselbstständige sind wirklich gemeint? Wie können wir das Statusfeststellungsverfahren vereinfachen, damit nicht für jeden Auftrag ein Verfahren, noch dazu mit Begleitung durch einen Anwalt nötig ist? An welchen Kriterien erkennen wir die soziale Schutzbedürftigkeit, um mit gezielten Maßnahmen die tatsächlichen Probleme zu lösen? Können wir in einem ersten Schritt nicht wenigstens dahin kommen, zeitgemäße agile Formen der Zusammenarbeit auch für Selbstständige zu ermöglichen, weil die Rechtsunsicherheit hier ganz besonders großen Schaden anrichtet?

Das Podium diente der Information der Teilnehmer/innen, es ging nicht um eine konkrete Entscheidung. Glücklicherweise. Als Learning werde ich mitnehmen, mich frühzeitig für eine ausgewogene Zusammensetzung einzusetzen. Denn wenn drei gegen einen argumentieren, statt mit ihm zu diskutieren, lässt das kein gutes Gefühl zurück. Nur wenn man gegenseitig auf Argumente eingeht, kann aus einer solchen Diskussion ein Ringen um die beste Lösung werden. Andererseits: Die Zuschauer/innen ziehen nach einer solchen Veranstaltung ihre eigenen Schlussfolgerungen. Ich hoffe, es ist mir gelungen, bei ihnen mehr Verständnis für uns freiwillig Selbstständige zu wecken und unsere Furcht davor, gegen unseren Willen zu Angestellten gemacht zu werden.

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