Der Deutsche Bundestag ist keine Institution, die im Ruf steht, an ihren Mitarbeitern zu sparen oder nicht über ausreichenden juristischen Sachverstand zu verfügen. Oder täuschen wir uns da?
Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) scheint anderer Auffassung zu sein. Sie hat die Parlamentsverwaltung in drei Fällen (die Fakten beschreibe ich unten im Detail) die Beschäftigung von Scheinselbstständigen und damit letztlich systematischen Rechtsbruch und Sozialbetrug vorgeworfen. Der Bundestag versucht in Gerichtsprozessen bereits in zweiter Instanz, das eigene Verständnis von Recht und Gesetz gegenüber der DRV durchzusetzen. Dabei genießt der Bundestag nach unserer Kenntnis anderer Fälle sogar noch eine Vorzugsbehandlung. Trotzdem sind in Summe bereits Forderungen von 2,4 Millionen Euro aufgelaufen.
Wie sind diese bemerkenswerten Vorgänge zu bewerten? Ist eher Interpretation a) oder b) richtig?
a) Man möchte beim Bundestag Kosten sparen und nimmt die Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse billigend in Kauf, indem man wissentlich Beitragszahlungen an die Sozialkassen durch die Beschäftigung von Scheinselbstständigen umgeht?
In den Medien neigt man zu dieser Interpretation - oft vermischt mit einiger Schadenfreude, dass selbst dem Bundestag so etwas passiert. Oppositionspolitiker sehen es auch so. Hans-Christian Ströbele von den Grünen hat sich fast genau mit obigem Wortlaut 2011 an Bundestagspräsident Lammert gewandt und in Verbindung damit seiner Sorge um das Ansehen des deutschen Parlaments Ausdruck verliehen.
b) Die Bundestagsverwaltung wollte einfach nur Aufträge entsprechend von Vergaberichtlinien in einer rechtssicheren Form vergeben, hat dabei auf die eigenen Juristen und den gesunden Menschenverstand vertraut und wurde von der Interpretation der Regeln zur Scheinselbstständigkeit durch die DRV völlig überrascht. Man hält die Vorgehensweise der DRV für nicht rechtens und geht deshalb juristisch gegen die DRV vor.
So wie ich die Bundestagsverwaltung bisher kennengelernt habe, ist dies die plausiblere, wenn auch vielleicht etwas langweiligere Erklärung: Selbst dem Deutschen Bundestag gelingt es nicht, die Geister, die er schuf, wieder loszuwerden: Die Regeln gegen die Scheinselbstständigkeit sind so schwammig, und vor allem ihre Auslegung durch die DRV so restriktiv, dass selbst die Juristen des Bundestags die Entwicklung nicht voraus sehen konnten.
Was bedeutet das für kleine Unternehmen?
Wenn die Rechtsunsicherheit in einem (nebenbei für die Volkswirtschaft ziemlich elementaren Bereich wie dem Vertragsrecht) so groß ist, dass selbst der Deutsche Bundestag illegal handelt, wer kann dann von "kleinen" Selbstständigen ohne Mitarbeiter und i.d.R. auch ohne einen Rechtsanwalt verlangen, dass er oder sie diese Regeln verstehen und einhalten kann? Und ist es gerecht, wenn die DRV auf Basis dieser nicht unumstrittenen Interpretation der Gesetzeslage zahllose Selbstständige zu Nachzahlungen in existenzgefährdender Höhe zwingt und sie teilweise in jahrelange Prozesse verstrickt?
Kleine Unternehmen sind von der zunehmenden Rechtsunsicherheit in doppelter Hinsicht betroffen: Als Auftraggeber, die freie Mitarbeiter beschäftigen, und als Auftragnehmer, die angesichts dieser Unsicherheit um Projekte fürchten müssen.
Für den Bundestag sind die Auseinandersetzungen mit der DRV ein Ärgernis, insbesondere für die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit. Kleine Unternhemen, die die DRV zu Nachzahlungen verdonnert, sind dagegen häufig in Ihrer Existenz bedroht, müssen sogar mit einer Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahre rechnen, mindestens aber mit jahrelangen und kostspieligen rechtlichen Auseinandersetzungen.
Wenn der Deutsche Bundestag es nicht schafft, seine Gesetze "einzuhalten", dann sollte man dies auch nicht von kleinen Unternehmen verlangen. Die Regeln gegen Scheinselbstständigkeit müssen reformiert und so gefasst werden, dass sie jeder Selbstständige (und natürlich auch Bundestagsjurist) verstehen und einhalten kann. Die aktuelle extrem restriktive und selbstständigenfeindliche Auslegung muss endlich beendet werden. Erst dann besteht wieder Rechtssicherheit.
Die Fakten - So setzen sich die 2,4 Millionen Euro zusammen, die die DRV vom Bundestag verlangt:
- Im Oktober kam heraus, dass die DRV Mitte September 1,45 Millionen Euro an Nachzahlungen vom Bundestag gefordert hat. Es geht um 43 Besucherführer, die Gästen Geschichte und Architektur des Reichstagsbebäudes vermittelt haben und angeblich scheinselbstständig beschäftigt waren. Die Nachzahlungen von im Schnitt 34.000 Euro pro Kopf haben sich über den Zeitraum 1.1.2006 bis 30.9.2010 angesammelt. Der Bundestag hat angekündigt, gegen den Bescheid der DRV Widerspruch einzulegen, schließlich habe man entsprechend "Recht und Gesetz" gehandelt.
- Dabei hatte der Bundestag noch Glück: Während die DRV bei anderen Betroffenen in solchen Fällen jährliche Anschlussprüfungen vornimmt, geschah dies beim Bundestag nicht. (Forderungen vor dem 1.1.2006 sind verjährt, denn es gilt eine Verjährungsfrist von vier Jahren.) Das Beispiel zeigt auch: Die Prüfungen dauern ernorm lange, in diesem Fall mehr als vier Jahre! Hätte man Anschlußprüfungen vorgenommen, bestünde jetzt das Risiko, für weitere vier Jahre Nachzahlungen leisten zu müssen.
- Bereits im Mai 2012 hatte die DRV vom Bundestag Nachzahlung von Sozialabgaben in Höhe von 730.000 Euro verlangt - für Öffentlichkeitsarbeiter, die auf Messen und Wanderausstellungen die Arbeit des Bundestags erklären. Die Bundestagsverwaltung wollten sich das nicht gefallen lassen und ging vor Gericht: Anfang 2014 entschied das Sozialgericht Berlin in diesem Präzedenzfall für den Bundestag: Solche Honorarkräfte sind keine abhängig Beschäftigten, weil sie z.B. das Risiko eines krankheitsbedingten Ausfalls selbst zu vertreten haben. Die DRV lässt das aber nicht gelten und ging in Berufung. In nächster Instanz entscheidet das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg.
- Auch hier hatte der Bundestag Glück: Andere Betroffene warten sehr viel länger auf ein Urteil in erster Instanz - und in der Zeit bis zu diesem Urteil sammeln sich dann weitere Verbindlichkeiten an. Vergleichbar ist allerdings die Erfahrung, dass die DRV i.d.R. Berufung einlegt, wenn das Gericht für den Auftraggeber urteilt.
- Bei den so genannten Besucherbetreuern, also Studenten, die Besucher an ihren Platz führen, hatte der Bundestag den einzigen Weg eingeschlagen, der schnell zu Rechtssicherheit und Ruhe vor der DRV führt. Er hat Nachzahlungen in Höhe von 253.000 Euro akzeptiert und beschäftigt die Mitarbeiter seitdem als studentische Aushilfskräfte.
Eine ausführliche Darstellung des Sachverhalts findet man z.B. bei sueddeutsche.de.
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