Eine Altersvorsorgepflicht für Selbstständige (AVP), 2012 erstmals von Ursula von der Leyen geplant, stand schon in mehreren Koalitionsverträgen, ohne je umgesetzt zu werden. Die entsprechende Formulierung schaffte es fast unverändert vom Sondierungspapier bis in den Koalitionsvertrag.
Im Koalitionsvertrag heißt es in Zeile 632 ff.: "Wir wollen Selbstständige besser fürs Alter absichern. Wir werden alle neuen Selbstständigen, die keinem obligatorischen Alterssicherungssystem zugeordnet sind, gründerfreundlich in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen. Andere Formen der Altersvorsorge, die eine verlässliche Absicherung für Selbstständige im Alter gewährleisten, bleiben weiterhin möglich."
Die wichtigsten Passagen unter der Lupe
Fast wortgleich stand es schon im Sondierungspapier von Union und SPD. In der Arbeitsgruppenphase wurde lediglich im zweiten Satz das Wort "gründerfreundlich" ergänzt (vgl. Ergebnispapier der AG 5 "Arbeit und Soziales"), das zuvor fehlte. Ansonsten war das Vorhaben offenbar nicht strittig:
- "Alle neuen Selbstständigen": Die Altersvorsorgepflicht wird sich nur auf künftige Selbstständige beziehen, also vermutlich solche, die nach Inkrafttreten des Gesetzes gründen und zuvor noch keine Umsätze aus gewerblicher oder selbstständiger Tätigkeit erzielten. Bestandsselbstständige bleiben verschont, eine Forderung, die es bei unserem Voting der wichtigsten politischen Anliegen von Solo- und Kleinstunternehmen unter die Top-5 schaffte. Das war schon im Ampel-Koalitionsvertrag so vorgesehen und stellt weniger eine Rücksichtnahme auf die Selbstständigen dar als darauf, dass die DRV ansonsten aus Gründen des Bestandsschutzes bei vielen Millionen Selbstständigen nachprüfen müsste, ob sie nicht schon über eine ausreichende Altersvorsorge verfügen, was mit einem enormen bürokratischen Aufwand verbunden wäre und die DRV überfordern würde.
- "Keinem obligatorischen Alterssicherungssystem zugeordnet": Gemeint sind damit berufsständische Versorgungswerke, die Sozialversicherung für Landwirte – sowie die Deutsche Rentenversicherung (DRV) selbst, in der bereits viele Selbstständige direkt oder indirekt über die Künstlersozialkasse versicherungspflichtig sind. Diese Selbstständigen bzw. die Umsätze aus den entsprechenden Tätigkeiten sollen von der künftigen Altersvorsorgepflicht ausgenommen bleiben.
- "Gründerfreundlich": Da sich die Altersvorsorgepflicht auf "neue Selbstständige" bezieht, trifft sie alle, die nach ihrer Einführung neu gründen. Typisch für die Gründungsphase ist allerdings, dass man zunächst noch relativ niedrige Einnahmen hat und vor allem, dass man zunächst einen sehr hohen Teil von diesen reinvestiert, um so weiteres Wachstum zu finanzieren und zugleich eine Verschuldung zu vermeiden. Investitionen können aber nur nach und nach als Abschreibungen und damit als Betriebsausgabe geltend gemacht werden. Sie zählen also überwiegend als Gewinn und müssen verbeitragt werden, was den Aufbau neuer selbstständiger Existenzen stark erschweren würde. Deshalb war schon bisher eine Gründerverschonung in den ersten zwei bis drei Jahren der Selbstständigkeit im Gespräch, mindestens aber ein reduzierter Beitragssatz. Das könnte dazu führen, dass nach Inkrafttreten der AVP nochmals mehrere Jahre vergehen, bevor sie tatsächlich zu Mehreinnahmen bei der DRV führt.
- "In die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen. Andere Formen der Altersvorsorge [...] bleiben weiterhin möglich.": Der im Koalitionsvertrag der Ampel vorgesehene "unbürokratische Opt-out" wird nicht explizit erwähnt, ist aber wohl mit dem letzten Satz gemeint. Man hat den Eindruck, die SPD hat den ersten Teil des Zitats in den Vertrag geschrieben, die Union den zweiten. Es wird sicher noch einige Auseinandersetzungen darüber geben, welche Formen der Altersvorsorge "eine verlässliche Absicherung für Selbstständige im Alter gewährleisten". Es klingt ja so, als könnten auch Immobilien gemeint sein. Da der/die nächste Arbeitsminister/in von der SPD gestellt wird, dürfte deren Interpretation höheres Gewicht haben. Ohne Zustimmung des Koalitionspartners Union geht es aber nicht.
Das Hauptproblem wird nicht angesprochen
Das eigentliche Hauptproblem der AVP wird weder hier noch an anderer Stelle im Koalitionsvertrag angesprochen, nämlich die unfaire Bemessung der Beiträge bei Selbstständigen: Anders als Angestellte zahlen sie Beiträge auch auf den rechnerischen Arbeitgeberanteil, mindestens in der freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung zudem auch auf ein fiktives Mindesteinkommen und zusätzliche Einnahmearten. Ihre Belastung ist deutlich höher als die von Angestellten und deren Arbeitgebern zusammen. Wenn diese unfaire Form der Beitragsberechnung nicht über alle Zweige der Sozialversicherung hinweg reformiert wird, wird sie zu einer finanziellen Überforderung künftiger Gründer/innen führen.
Zugegeben: Dafür war noch eine weitere Arbeitsgruppe, nämlich die für Gesundheit und Pflege zuständig – und die hat dieses Problem an keiner Stelle adressiert. Die übermäßigen Belastungen aus den verschiedenen Versicherungszweigen machen sich aber auf dem Bankkonto künftiger Selbstständiger bemerkbar und werden – wenn die Regierung das Problem weiterhin nicht zur Kenntnis nimmt – zu einem weiteren starken Einbruch bei der Zahl der Gründungen und Selbstständigen führen. Und das eventuell erst zeitverzögert, wenn die "gründungsfreundliche" Phase der AVP für die ersten Gründer/innen zu Ende geht.
Mehrere Reformen auf einmal nötig
Diese kurzsichtige Politik gilt es unbedingt zu vermeiden – auch im Interesse der Bestandsselbstständigen, denen durch die überhöhten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge Geld für die Altersvorsorge fehlt oder die aus diesem Grund ihre Selbstständigkeit vorzeitig beenden. Wir werden uns deshalb weiterhin mit aller Kraft dafür einsetzen, dass es keine Altersvorsorgepflicht ohne gleichzeitige Beitragsgerechtigkeit für Selbstständige gibt.
Als wäre das nicht komplex genug, hat die SPD an anderer Stelle im Koalitionsvertrag durchgesetzt, dass es eine Reform des Statusfeststellungsverfahrens oder wichtiger Teile davon nur in Verbindung mit der Einführung der AVP geben darf. Dadurch wird das ganze Vorhaben so komplex, dass dies seine Umsetzung gefährdet.
Du möchtest Kommentare bearbeiten, voten und über Antworten benachrichtigt werden?
Jetzt kostenlos Community-Mitglied werden