Die Enthaltung Deutschlands und Änderungsvorschläge Frankreichs nutzten nichts: Die EU-Staaten haben sich auf einen Kompromiss zur Plattformrichtlinie geeinigt. Dieser verzichtet auf einheitliche Kriterien für Scheinselbstständigkeit – und wird so die Rechtsunsicherheit weiter erhöhen.
Inhaltsübersicht
- Einigung auf faulen Kompromiss
- Fauler Kompromiss verhindert
- Fauler Kompromiss: Mit Beweislastumkehr und unklarem Plattform-Begriff sollen schwächste Punkte der Richtlinie bleiben
- Geplante EU-Plattformrichtlinie: Ausschuss lässt vorläufige Einigung platzen
- Vorläufige Einigung zur Plattform-Richtlinie: EU will Beschäftigung bei zwei erfüllten Kriterien vermuten
Der Rat "Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz" der EU (EPSCO) hat in seiner Sitzung am 11. März die Richtlinie zur Plattformarbeit beschlossen – in der Textfassung, auf die man sich am 8. Februar schon einmal vorläufig geeinigt hatte. Damals war der Entwurf, der für Selbstständige einen faulen Kompromiss bedeutet, jedoch eine Woche später, am 16. Februar, an den fehlenden Stimmen von Deutschland, Frankreich, Griechenland und Estland gescheitert.
Die Sitzung des Rates wurde im Livestream übertragen und kann nachgeschaut werden. Die Redebeiträge der Staaten können auch einzeln aufgerufen werden. Die Sitzung leitete der belgische Wirtschafts- und Arbeitsminister Pierre-Yves Dermagne. Dermagne rief die Minister/innen der Länder einzeln auf. In jeweils einer Minute Redezeit sollten sie ihre Entscheidung bekanntgeben.
Als erstes kam der deutsche Arbeitsminister Hubertus Heil an die Reihe. "Hubertus aus Deutschland" – Dermagne rief alle Vertreter/innen mit Vornamen auf. Während die nachfolgenden Redner durchgängig von einer nicht perfekten Lösung und Verbesserungsbedarf sprachen, war Heil sehr zufrieden und fand Zeit für einen Seitenhieb auf den Koalitionspartner FDP. Er wolle aus seinem "Herzen keine Mördergrube machen". Deutschland müsse sich enthalten, weil "ein Koalitionspartner" dem Dossier nicht zustimme. Persönlich bedauere er die Enthaltung sehr. Wer Fortschritt wolle, müsse Kompromisse machen, und wer keine Kompromisse wolle, könne nicht mitgestalten.
Am Vormittag Gerüchte: Sperrminorität wackelt
Die Enthaltung entsprach Deutschlands bisherigem Abstimmungsverhalten. Heil, die SPD und auch die Grünen hätten der Plattformarbeit-Richtlinie gerne zugestimmt. Weil die FDP zu ihrem Wort stand und im Interesse der gerne und freiwillig Selbstständigen ihr Nein aufrechterhielt, musste sich Deutschland in den Abstimmungen enthalten. Zusammen mit den anderen nicht zustimmenden Staaten Frankreich, Estland und Griechenland bildete sich damit in der vorigen Runde die Sperrminorität von vier Staaten, die die Verabschiedung verhinderte. Nun stellte sich also die Frage: Würde bei der erneuten Abstimmung eines dieser vier Länder seine Meinung ändern? Am Morgen verbreitete sich das Gerücht, dass eines der beiden kleineren Länder umgestimmt worden sei.
Dauerbrenner zweifelhafte Zahlen
Nach Heil kam die spanische Arbeitsministerin Yolanda Diaz an die Reihe. Sie wiederholte erneut die zweifelhafte Zahl von 28 Millionen Plattformbeschäftigten, die durch die Richtlinie geschützt werden müssten. Spanien war einer der treibenden Kräfte für die Richtlinie und stimmte dem Kompromisstext zu, obwohl es gerne eine viel weitreichendere Regelung gehabt hätte. Diaz machte klar, dass Spanien die Zustimmung zurückziehen werde, sollte Frankreich noch Ergänzungen zu dem Text einbringen.
Frankreich, das der Richtlinie und insbesondere der gesetzlichen Beschäftigungsvermutung von Anfang an kritisch gegenüberstand, blieb bei seiner Ablehnung des aktuellen Textes. Als einer von ganz wenigen Rednern sprach der Vertreter Frankreichs nicht nur von Angestellten und Plattformarbeitern, sondern auch den berechtigten Interessen der Selbstständigen. Man könne dem Dossier nur zustimmen, wenn es um den eigenen Textvorschlag ergänzt werde. Damit hatte Frankreich keine Chance, denn mit dem Addendum hätten andere Staaten wie Spanien ihre Zustimmung zurückgezogen.
Der mächtige Geist des Kompromisses
Da die anderen Länder bei ihrer Zustimmung blieben, kam es auf Griechenland und Estland an. Und hier hatte offenbar der "Geist des Kompromisses", den so viele Minister/innen an diesem Nachmittag beschworen, gesiegt: Nicht nur eines der beiden Länder, sondern sowohl Griechenland als auch Estland stimmten mit "Ja". Beide Male brandete Applaus im Saal auf, die Mehrheit gab so ihrer Freude darüber Ausdruck, dass die beiden Staaten ihren Widerstand aufgaben.
Aus echter Überzeugung erfolgte die Zustimmung nicht unbedingt. Griechenlands Arbeitsministerin Domna Michailidou sagte, man hatte der Logik Frankreichs folgend erhebliche Bedenken, die Bedenken gäbe es nach wie vor. Man erkenne an, dass es viele Änderungen an der Richtlinie gegeben habe, es fehle aber nach wie vor an rechtlicher Klarheit. In Griechenland spielten Tourismus und Gastronomie eine wichtige Rolle, saisonale Branchen. Man habe eine Balance gefunden zwischen Angestellten und Selbstständigen, die im Gegenzug für ihre höhere Flexibilität besser bezahlt würden. Der Vertreter Estlands sprach davon, dass die rechtliche Vermutung ein komplexes Instrument sei und man bei der Umsetzung der Richtlinie darauf achten müsse, dass sie keine zu großen negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft habe.
Regelung über algorithmisches Management am Arbeitsplatz
Teils erschienen die Statements widersprüchlich. So berichtete der slowenische Vertreter, er habe letzte Woche erst mit Plattformarbeitern gesprochen: Sie fänden es gut, dass sie ihr eigener Chef seien. Trotzdem stimmte er der Richtlinie zu. Der eigentliche Chef, so die Plattformarbeiter, sei der Algorithmus, den es transparenter, "menschlicher" zu gestalten gelte, wie ein anderer Redner ergänzte. Die Richtlinie enthält auch einen wenig strittigen Teil über algorithmisches Management am Arbeitsplatz, der für mehr Transparenz sorgen soll.
Italien hielt fest, dass seiner Meinung nach der traditionelle Taxi-Sektor von den Regelungen ausgenommen bleiben sollte, und Österreich kündigte an, eine Protokollerklärung abzugeben, damit der Status der freien Dienstnehmer, eine österreichische Besonderheit zwischen Selbstständigkeit und Angestelltenverhältnis, unangetastet bleibt.
Zwei Jahre Zeit für nationale Umsetzung
Die Absegnung durch Rat und Parlament sind in der Regel nur noch Formsache. Die Richtlinie kann nun also als beschlossen angesehen werden. Nach der Ratifizierung haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, um die Richtlinie im nationalen Recht umzusetzen, also bis Frühjahr/Sommer 2026. Bleibt es bei der Bundestagswahl im Herbst 2025 hätte die nächste Bundesregierung nur wenig Zeit, die Richtlinie in deutsches Recht umzusetzen, wenn die Ampel nicht die Kraft dazu findet.
Die Einigung wird als Erfolg zum Schutz von Plattformbeschäftigten dargestellt. Tatsächlich wird sich die Regelung in Deutschland unserer Einschätzung nach jedoch vor allem verheerend auf Solo-Selbstständige und ihre Auftraggeber auswirken. Mit ihr wird die schon jetzt bedrückende Rechtsunsicherheit bezüglich ihres Status noch weiter zunehmen. Zugleich dürfte der Nutzen für Plattformbeschäftigte wie etwa Fahrradkuriere und Uber-Fahrer gering sein, da diese in Deutschland ganz überwiegend schon jetzt angestellt sind.
Enttäuschung über Einigung
Wir haben – in enger Zusammenarbeit mit den Verbänden in der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbstständigenverbände (BAGSV) – in den letzten Jahren sehr viele Gespräche in Berlin und Brüssel geführt, um eine selbstständigen-freundlichere Ausgestaltung zu erreichen und sahen uns damit kurz vor dem Ziel. "Die Einigung auf diese Version der EU-Richtlinie zur Plattformarbeit ist ein schwarzer Tag für die Selbstständigen in Deutschland", kommentiert VGSD-Vorstand Andreas Lutz.
Der schwammige Plattformbegriff, die Beweislastumkehr und die fehlenden einheitlichen Kriterien werden die Rechtsunsicherheit für Solo-Selbstständige in Deutschland erhöhen. "Die EU-Richtlinie zur Plattformarbeit stellt die Selbstständigkeit gerne und freiwillig Selbstständiger in Deutschland in Frage", sagt VGSD-Vorstand Andreas Lutz. "Schon jetzt gibt es immer mehr Auftraggeber, die keine Aufträge mehr an Solo-Selbstständige in Deutschland vergeben oder sie gegen ihren Willen in deutlich schlechter bezahlte Leiharbeit drängen, weil diese im Vergleich als rechtssicherer erscheint", sagt Lutz.
Unterstützt uns mit eurer Mitgliedschaft!
Nun wird unser Kampf für Rechtssicherheit in Deutschland noch dringender. Wir alarmierten deshalb schon im Vorfeld der Sitzung nicht nur unsere eigenen Mitglieder, sondern alle BAGSV-Verbände. Durch eine gerade eingeführte bessere technische Vernetzung konnten wir die Verbände sehr schnell aktivieren. An der kurzfristig für den Mittag angesetzten Onlinekonferenz nahmen rund 20 Verbände teil. Direkt im Anschluss an den Beschluss des EPSCO versendeten wir eine Pressemitteilung an fast 1.000 Journalisten, in der wir uns eindeutig zur EU-Richtlinie positionierten.
Wir werden euch hier auf der VGSD-Website weiter auf dem Laufenden zur Richtlinie halten. Wir benötigen aber auch eure Unterstützung für die von uns geplanten Aktionen zu diesem Thema. Aktuell suchen wir direkt oder indirekt von der Rechtsunsicherheit Betroffene, die bereit sind, mit Journalisten über die konkreten wirtschaftlichen Auswirkungen auf sie zu sprechen. Auch wenn das bei euch nicht der Fall ist: Bitte unterstützt den VGSD, indem ihr Vereinsmitglied werdet. Nur mit eurer Hilfe kann unser Kampf für mehr Rechtssicherheit und Respekt vor unserer Lebensentscheidung für die Selbstständigkeit erfolgreich sein.
Seit mehr als zwei Jahren wird verhandelt, seit mehr als zwei Jahren gibt es keinen Konsens: Die EU-Richtlinie zur Regulierung von Plattformarbeit steht möglicherweise vor dem Aus. Bei der Abstimmung am 16. Februar gelang es dem belgischen Ratsvorsitz nicht, eine Mehrheit für den zuletzt erarbeiteten Entwurf für die Richtlinie zu finden. Schon kurz vor Weihnachten war ein im Trilog ausgehandelter Entwurf in letzter Minute bei den Mitgliedstaaten durchgefallen.
Keine Kriterien mehr im Entwurf
Erst eine Woche zuvor hatten sich Unterhändler von Parlament, Kommission und Ratspräsidentschaft auf einen Kompromiss-Entwurf geeinigt. Bei dieser aus unserer Sicht "schlechtesten aller Lösungen" wurden die zuvor umstrittenen Kriterien für das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung ganz weggelassen. "Weil man selbst daran gescheitert ist, rechtssichere Kriterien zu formulieren, schafft man nun neue Rechtsunsicherheit", kommentierte VGSD-Vorstand Andreas Lutz.
Teil des Entwurfs war es, dass eine abhängige Beschäftigung vermutet wird, wenn Indizien auf eine Kontrolle der Mitarbeitenden vorliegen. Die Beweislast, dass dies gegebenenfalls nicht so ist, wäre bei den Plattformen gelegen. Die Mitgliedstaaten sollten verpflichtet werden, die widerlegbare Vermutung umzusetzen und dafür eigenen Kriterien aufzustellen – hierin lag ein entscheidender Unterschied zu allen vorigen Varianten: Da die Mitgliedstaaten sich nicht auf einheitliche Kriterien für die gesamte EU hatten einigen können, sollte dies in die Hände der Mitgliedstaaten gelegt werden. Die Definition, was eine Plattform überhaupt ist, blieb weit und schwammig.
Dieser faule Kompromiss ist nun vom Tisch. "Leider wurde die erforderliche qualifizierte Mehrheit nicht gefunden. Wir glauben, dass diese Richtlinie, die für diese Arbeitskräfte [Plattformarbeiter] ein wichtiger Schritt nach vorne sein sollte, es weit gebracht hat", schrieb die belgische Ratspräsidentschaft in einem Beitrag auf der Kurznachrichten-Plattform X (früher Twitter).
Bei der Abstimmung war eine qualifizierte Mehrheit nötig gewesen, um den Entwurf anzunehmen. Dafür müssen mindestens 55 Prozent der Mitgliedstaaten zustimmen, und diese müssen 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU vertreten. Zugleich sorgt eine Ablehnung oder Enthaltung von mindestens vier Mitgliedstaaten für eine Sperrminorität, also ein Scheitern der Abstimmung. In der Abstimmung über die Plattform-Richtlinie enthielten sich Frankreich, Deutschland, Griechenland und Estland – damit war der Entwurf durchgefallen. Dass die FDP eine deutsche Zustimmung zum Entwurf verhinderte, war damit entscheidend für das Scheitern der Abstimmung. Die Zukunft der Richtlinie hängt nun vom Verhalten Frankreichs ab, das Zünglein an der Waage ist.
Vergebliche Versuche, die FDP umzustimmen
Im Juni dieses Jahres wird das Europäische Parlament neu gewählt. Eine Einigung noch vor dem Beginn des Wahlkampfes erscheint unwahrscheinlich. In dem zitierten Tweet der belgischen Ratspräsidentschaft heißt es: "Wir werden nun die nächsten Schritte in Erwägung ziehen." Was diese nächsten Schritte sein könnten, ist jedoch unklar. Das Portal Euractiv zitiert einen EU-Diplomaten: " Ich habe absolut keine Ahnung, worauf diese nächsten Schritte hinauslaufen könnten." Nach Einschätzung von Euractiv ist eher davon auszugehen, dass das Projekt auf die nächste Legislaturperiode verschoben ist – und fraglich, ob es dann noch einmal angegangen wird.
Bis zuletzt war unklar gewesen, ob sich die erforderliche Mehrheit doch noch findet. Nach Informationen von Euractiv war ein für den späten Vormittag geplanter "Rundgang", bei dem nacheinander die Meinungen der Mitgliedstaaten eingeholten werden sollten, um mehrere Stunden verschoben worden. Dabei zeichnete sich ab, dass die Stimmen nicht ausreichen würden. Die Abstimmung fand dann nicht wie geplant um 12.30 Uhr statt, sondern um 15 Uhr. Dennoch war es der belgischen Ratspräsidentschaft nicht gelungen, noch eine Mehrheit für das Gesetz zu finden. SPD und Grüne versuchten vergeblich, die FDP umzustimmen.
"Angriff auf alle Selbstständigen in Europa"
Neben Frankreich kam der deutschen Enthaltung eine entscheidende Rolle zu. Eine deutsche Zustimmung zu dem Gesetz verhinderte die FDP, die sich von ihrem Veto von allen Versuchen der SPD und den Grünen nicht abbringen ließ. Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Johannes Vogel, sagte dazu: " Der Wirtschaftsstandort Europa steht im internationalen Wettbewerb unter Druck. Wir brauchen deswegen gute Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Wohlstand in Europa. Die EU-Plattformrichtlinie ist ein Angriff auf alle Selbständigen in Europa. Die Initiative der Kommission geht nicht zu weit, sondern einfach in die falsche Richtung. Selbstständigkeit ist ein zentraler und notwendiger Teil einer modernen Arbeitswelt. Es kann nicht sein, dass Selbstständige gegen ihren Willen zu Beschäftigten gemacht werden sollen. Daher ist es genau richtig, dass Deutschland wegen des Einsatzes der FDP dem im Rat nicht zustimmt.
Zwei Drittel aller Solo-Selbstständigen scheinselbstständig?
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Andreas Audretsch, erklärte zur gescheiterten Abstimmung: "Die Enthaltung schadet erneut der Reputation Deutschlands. Mehr als 28 Millionen Menschen in Europa arbeiten über Plattformen wie Uber oder Lieferando, die Zahl steigt rasant an, bis 2025 könnte sie bei mehr als 40 Millionen Menschen liegen." Damit zitiert Audretsch erneut die fragwürdigen Zahlen, die 2021 von der EU-Kommission in Umlauf gebracht wurden und seitdem unhinterfragt weitergetragen werden. Ein Fünftel aller Erwerbstätigen in der EU würde demzufolge im kommenden Jahr für Plattformen arbeiten. Derselben Quelle entstammt auch die Zahl von 5,5 Millionen möglichen Scheinselbstständigen, was umgerechnet auf Deutschland bedeuten würde, dass zwei Drittel aller Solo-Selbstständigen scheinselbstständig wäre. Auf die wacklige Grundlage dieser Zahlen hatten wir im vergangenen Jahr hingewiesen.
In Zukunft Selbstständige besser berücksichtigen
Im Hinblick auf die Interessen von Solo-Selbstständigen sind wir als VGSD und BAGSV froh, dass diese Version der Richtlinie keine Zustimmung gefunden hat. Die Verbesserung der rechtlichen Lage von Menschen, die für digitale Plattformen bei schlechter Bezahlung Arbeit unter Bedingungen verrichten, die eher einem Angestelltenverhältnis entsprechen, sollte nicht auf Kosten der Rechtssicherheit von freiwillig und gerne selbstständig Tätigen gehen.
"Wir hoffen, dass im Falle eines neuen Anlaufs Selbstständige und ihr Interesse an Rechtssicherheit stärker berücksichtigt werden als in den letzten zwei Jahren. Die verantwortlichen Sozialpolitiker in Brüssel und Berlin sollten gemeinsam mit uns nach Wegen suchen, um sozial Schutzbedürftigen zu helfen. Eine solche Richtlinie sollte auf einer breiteren Grundlage stehen", sagt VGSD-Vorstand Andreas Lutz. Der VGSD und die BAGSV werden bei einer neuen Initiative zu dem Gesetz noch einmal auf alle Gesprächspartner der letzten zwei Jahre zugehen.
Fauler Kompromiss: Mit Beweislastumkehr und unklarem Plattform-Begriff sollen schwächste Punkte der Richtlinie bleiben
Nach obenIm Streit über die EU-Richtlinie zur Plattformarbeit gibt es einen Kompromissvorschlag, auf den sich Unterhändler von EU-Parlament und Mitgliedstaaten am Donnerstag geeinigt haben. Der Deal könnte kommende Woche von den EU-Gremien offiziell beschlossen werden. – Oder abgelehnt: Darauf ruhen unsere Hoffnungen. Eine kleine Chance gibt es.
Wie das EU-Parlament mitteilte, einigte man sich auf einen Richtlinienentwurf, in dem
- eine abhängige Beschäftigung vermutet wird, wenn Indizien auf eine Kontrolle der Mitarbeitenden vorliegen;
- die Beweislast, dass das gegebenenfalls nicht so ist, bei den "Plattformen" liegt;
- die Mitgliedstaaten verpflichtet werden, die widerlegbare Vermutung der Beschäftigung umzusetzen und dafür eigene Kriterien aufzustellen.
Keine Einigung auf europaweit einheitliche Kriterien
Der letzte Punkt ist eine völlig neue Wendung im seit über zwei Jahre währenden Streit über die Richtlinie. Denn die Kriterien, die die widerlegbare Vermutung auslösen sollten, waren ein wesentlicher, hoch umstrittener Punkt in den unterschiedlichen Entwürfen. Da man darüber in mehreren Versuchen keine Einigung erzielen konnte, hat man sie nun offenbar ganz gestrichen. Ziel der belgischen Ratspräsidentschaft ist offenbar, die Richtlinie um jeden Preis vor Beginn des Wahlkampfs für die Europawahlen in diesem Frühjahr durchzubekommen. Die Zeit ist knapp. Wenn die Richtlinie in diesem Anlauf scheitern sollte, wird es vor der Europawahl wohl keinen weiteren geben und die Richtlinie wäre fürs Erste gescheitert.
Für die Kriterien wird in der Mitteilung des Europaparlaments auf nationale Gesetze, internationale Abkommen und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) verwiesen.
"Die schlechteste aller Lösungen"
"Das ist aus meiner Sicht die schlechteste aller Lösungen. Die Richtlinie arbeitet einerseits mit einem sehr schwammigen Plattformbegriff, durch den eine große Zahl von Auftraggebern durch die Nutzung zeitgemäßer Methoden zur Zusammenarbeit mit ihren Auftraggebern unter die Richtlinie fallen könnten, ohne es sicher zu wissen. Andererseits werden die Sanktionen durch die Beweislastumkehr verschärft, ohne dass rechtssichere Kriterien geschaffen wurden. Wie soll ich beweisen, dass ich nicht scheinselbstständig bin, wenn dafür keine Kriterien festgelegt wurden?", sagt VGSD-Vorstand Andreas Lutz.
"Dieser faule Kompromiss schadet Solo-Selbstständigen in Deutschland ganz besonders, weil es bei uns keine klaren Statusfeststellungskriterien gibt. Für sie wird es noch schwieriger, im Inland Aufträge zu erhalten – und das mitten in einer schweren Wirtschaftskrise. Zugleich operiert die EU mit Zahlen, die heruntergerechnet auf Deutschland bedeuten, dass zwei von drei Solo-Selbstständigen in Wahrheit Angestellte sind. Das ist völlig unplausibel, zeigt aber das Ausmaß des Schadens, den diese Richtlinie anrichten kann."
EU-Parlament und -Rat drücken sich vor den eigentlichen Fragen
Neben Solo-Selbstständigen und ihren Auftraggebern könnten sich auch für international tätige Unternehmen schwierige Bedingungen ergeben, wenn die Regelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausfallen. Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer von Bitkom, des Branchenverbands der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche (BITKOM), sagt dazu: "Statt europaweit einheitliche Regeln zu schaffen, drücken sich EU-Parlament und Rat vor den eigentlichen Fragen. Sie lassen im Unklaren, welche Indikatoren eine selbstständige von einer unselbstständigen Arbeit unterscheiden und überlassen es nun den Mitgliedstaaten, dies zu definieren. Die Folge wird wie so oft ein Flickenteppich nationaler Regelungen sein, der neue Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten schafft."
Emmanuel Macron ist Zünglein an der Waage
Ganz in trockenen Tüchern ist der Kompromiss noch nicht. In der kommenden Woche soll über ihn abgestimmt werden. Zünglein an der Waage ist der französische Präsident Emmanuel Macron. Deutschland enthält sich bei der Abstimmung, weil die FDP – anders als SPD und Grüne – die Richtlinie sehr kritisch sieht und deshalb eine Zustimmung durch die Bundesregierung verhindert.
Die EU und der Spiegel preisen den Kompromiss schon jetzt als Erfolg für die Plattformarbeitenden in Europa, nicht ohne erneut auf die oben bereits erwähnten unplausiblen Zahlen hinzuweisen. Der Spiegel zitiert immerhin auch kritische Stimmen von Diplomaten, wonach die vorläufige Einigung eine "große rechtliche Unsicherheit" in den Mitgliedsstaaten bedeuten würde.
Falls du dich mit dieser Entwicklung nicht abfinden möchtest: Wende dich gerne - am besten noch dieses Wochenende oder Anfang nächster Woche - an EU-Abgeordnete aus deinem Wahlkreis oder dem zuständigen Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten.
Bald wird das EU-Parlament neu gewählt, vielleicht erhöht das die Bereitschaft, Sorgen von Bürger/innen Gehör zu schenken.
Geplante EU-Plattformrichtlinie: Ausschuss lässt vorläufige Einigung platzen
Nach obenFür die geplante Richtlinie der EU zur Plattformarbeit wird es eng: Die Botschafter der Mitgliedstaaten konnten sich nicht darauf einigen, die von Rat und Parlament erzielte vorläufige Einigung anzunehmen.
Gerade noch hatte es nach einem Durchbruch für die Befürworter der EU-Richtlinie zur Plattformarbeit ausgesehen, nun haben nur ein paar Tage später wieder die Gegner die Oberhand. Im Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten gab es am 22. Dezember nicht genug Zustimmung zu dem Entwurf, auf den sich Parlament und Rat zuletzt geeinigt hatten. Zusätzlich zu Deutschland, das dem Vorschlag wegen der Ablehnung der FDP nicht zustimmen und sich enthalten wollte, lehnten weitere wichtige Staaten den Entwurf ab, darunter Frankreich. Dessen Ablehnung wiegt wegen der großen Bevölkerung besonders schwer: Bei der Abstimmung müssten Mitgliedstaaten zustimmen, die mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der EU repräsentieren.
Damit ist eine Einigung unter der spanischen Ratspräsidentschaft, die eine starke Fürsprecherin der Richtlinie war, gescheitert. Am 1. Januar übernimmt Belgien die Ratspräsidentschaft. Dann sollen die Verhandlungen wieder aufgenommen werden, die jedoch wegen der Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 unter großem Zeitdruck stehen werden.
Vorläufige Einigung zur Plattform-Richtlinie: EU will Beschäftigung bei zwei erfüllten Kriterien vermuten
Nach obenSeit mehr als zwei Jahren wird verhandelt und gestritten, nun könnte die Richtlinie zur Regulierung der Plattformarbeit im kommenden Jahr von der EU beschlossen werden. In den Trilog-Verhandlungen haben das EU-Parlament und der Ministerrat einen Durchbruch erzielt.
Nach mehreren Schleifen klingt die nun gefundene Regelung wieder sehr ähnlich zum anfänglichen Vorschlag der Kommission. Dem neuen Vorschlag zufolge sollen Beschäftigte von Plattformen als Arbeitnehmer/innen angesehen werden, wenn zwei von fünf in der Richtlinie festgelegten Kriterien erfüllt sind. Die fünf Kriterien sind:
- Obergrenze für die Vergütung, die Beschäftigte erhalten können
- Überwachung der Arbeitsleistung, auch mit elektronischen Mitteln
- Kontrolle über die Verteilung oder die Zuweisung von Aufgaben
- Kontrolle über die Arbeitsbedingungen und Beschränkungen bei der Wahl der Arbeitszeiten
- Beschränkungen der Freiheit zur Organisation der eigenen Arbeit und Regeln in Bezug auf das Erscheinungsbild oder Verhalten
Rat kommt dem Parlament entgegen
Die Mitgliedstaaten können in ihren nationalen Gesetzen weitere Kriterien ergänzen – hier kam offenbar der Rat dem Parlament entgegen, wie das Portal Euractiv berichtet. Der Rat wollte eine abschließende europäische Liste, die von den nationalen Gesetzgebungen nicht mehr erweitert werden kann.
Die "Zwei aus Fünf"-Lösung war schon Teil des Kommissionsentwurfs vom Dezember 2021. Zwischenzeitlich hatte der Rat einen Vorschlag gemacht, nach dem drei von sieben Kriterien die Vermutung auslösen sollten, das Parlament hatte einen noch weiter gehenden Entwurf ohne Kriterienkatalog vorgelegt.
Neue Rechtsunsicherheit für Selbstständige zu befürchten
Wenn die gesetzliche Vermutung greift, gilt die Person als angestellt. Die Plattform kann dann nachweisen, dass nach den "nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" kein Arbeitsverhältnis besteht. Es findet also eine Beweislastumkehr statt: Nicht die Plattformbeschäftigten oder die Behörde müssen belegen, dass ein Angestelltenverhältnis vorliegt, sondern die Plattform muss beweisen, dass dies nicht vorliegt.
Die Regelung könnte für echte Solo-Selbstständige neue Rechtsunsicherheit bringen. Problematisch dürfte vor allem das Kriterium "Kontrolle über die Verteilung oder die Zuweisung von Aufgaben" sein. Ziel sollen eigentlich große Plattformen mit vielen Beschäftigten im Niedriglohnsektor sein. Die Rede ist bei der Begründung des Gesetzesvorhabens immer wieder von "Beschäftigten von Taxiunternehmen und Essenslieferdiensten sowie von Hausangestellten" – so steht es beispielsweise in der Pressemitteilung des Rats zur Einigung. Doch das Merkmal der Verteilung und Zuweisung von Aufgaben könnte letztlich auf alle digitalen Arbeitsplattformen zutreffen, die Arbeit in irgendeiner Form organisieren.
Begründung mit fragwürdigen Zahlen
Zudem werfen die Zahlen, die zur Begründung des Vorhabens angeführt werden, Zweifel auf. Um 28 Millionen Plattformbeschäftigte soll es bei dem Gesetzesvorhaben gehen, um möglicherweise 5,5 Millionen Scheinselbstständige. Diese Zahlen werden seit nun zwei Jahren vom einen zum anderen kolportiert, sie schmücken die Pressemitteilung des Ministerrats zur vorläufigen Einigung ebenso wie sie Medienartikel durchziehen. Ohne Hinterfragen werden dabei Zahlen weitergetragen, die auf zweifelhafte Weise in die Welt gesetzt wurden.
Die Zahlen entstammen einer Studie, die zur Vorbereitung des Gesetzesvorhabens angefertigt und im Oktober 2021 vorgelegt wurde. Wir haben die Studie vor einem Jahr analysiert und festgestellt, dass sie viele Schwächen enthält, vor denen die Autor/innen selbst explizit warnen. Immer wieder wird im Text darauf hingewiesen, dass die Zahlen zu hoch ausfallen könnten, am oberen Ende eines möglichen Bereichs liegen oder weit gefasst seien. Dennoch werden die Zahlen seitdem kritiklos weiterverbreitet.
Schwammige Kriterien könnten die Falschen treffen
Wir befürchten deshalb, dass die geplante Plattform-Richtlinie auf viel mehr Personen abzielt oder viel mehr Personen treffen wird, als die in den Begründungen immer wieder genannten Beschäftigten der Lieferdienste oder Care-Kräfte. Die schwammigen Kriterien könnten auch Menschen treffen, die freiwillig und gerne selbstständig tätig sind und deren Aufträge keine Ähnlichkeit mit einem abhängigen Arbeitsverhältnis haben.
Die vorläufige Einigung muss noch von Rat und Parlament gebilligt werden. Deutschland hat sich in den Abstimmungen im Ministerrat zuletzt enthalten, da sich die Koalitionsparteien nicht einig sind: Die SPD befürwortet das Vorhaben, die FDP lehnt es ab. Der stellvertretende Parteivorsitzende Johannes Vogel hat Widerstand gegen die Richtlinie angekündigt: "Die Einigung zur EU-Plattformrichtlinie ist ein Angriff auf alle Selbständigen in Europa. Die aktuellen Pläne der EU sind ein riesiger Rückschritt, dem Deutschland auf Betreiben der Freien Demokraten zu Recht nicht zustimmen wird. Unser Ziel muss aber sein, eine Mehrheit für diese Richtlinie ganz zu verhindern!"
Wenn der Vorschlag auch ohne die Zustimmung der Deutschen angenommen wird und die Gesetzgebung der EU abgeschlossen ist, haben die Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, die Bestimmungen in nationales Recht umzusetzen.
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