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Lesetipp Wahlergebnisse unter der Lupe Wen haben die Selbstständigen am Sonntag gewählt?

Die Selbstständigen haben überproportional häufig Union, FDP und Grüne gewählt, besonders selten dagegen die SPD. Wie sich (nicht nur) ihr Wahlverhalten im Lauf der Jahre verändert hat, beantwortet unsere Wahlanalyse.

Wenn die Selbstständigen den Bundestag gewählt hätten, hätte sich der Stimmanteil der FDP im Vergleich zur letzten Wahl von 18 auf 9 Prozent halbiert - für die 5-Prozent-Hürde hätte es aber gereicht

An den Selbstständigen hat es nicht gelegen, dass die FDP nicht in den Bundestag gekommen ist. Oder doch? 9 Prozent von ihnen haben die Liberalen gewählt, halb so viele wie bei der letzten Wahl (18 Prozent), aber mehr als doppelt so viele (+109 Prozent) wie der Durchschnitt der Bevölkerung. 2009 hatten noch 24 Prozent der Selbstständigen die FDP gewählt, mit 14,6 Prozent aller abgegebenen Stimmen erzielte diese damals ihr historisch bestes Ergebnis. Damals konnte 31 Tage nach der Wahl die vorerst letzte schwarz-gelbe Regierung gebildet werden. 

Union profitierte von schlechten FDP-Prognosen

Möglicherweise hätten noch mehr Selbstständige ihr Kreuzchen bei den Liberalen gemacht, hätten sie sich nicht aufgrund der bei 4 Prozent festbetoniert erscheinenden Umfragewerte fragen müssen, ob ihre Stimme für die FDP aufgrund der 5-Prozent-Hürde verloren sein könnte. 

So viel Prozentpunkte mehr oder weniger bekamen die Parteien von Selbstständigen

Davon profitierte die Union, die ebenso wie die Grünen von Selbstständigen überproportional gewählt wird. 35 Prozent der Selbstständigen haben CDU/CSU gewählt, sechs Prozentpunkte mehr als bei der letzten Wahl und ein Aufschlag von 22 Prozent gegenüber dem Gesamtwahlergebnis der Union von 28,6 Prozent. Ein ähnlich hoher Aufschlag von 20 Prozent gegenüber dem Gesamtwahlergebnis ist auch bei den Grünen zu beobachten: Statt 11,6 Prozent waren es bei den Selbstständigen 14 Prozent, die für Bündnis 90/Die Grünen stimmten. 

Grüne traditionell stark bei Selbstständigen, aber Vorsprung schrumpft

Schon vor vier Jahren war der prozentuale "Selbstständigen-Bonus" bei der Union größer als bei den Grünen. Bei den vier Wahlen davor (2005 bis 2017) hatten die Grünen dagegen stets die Nase vorn. Offenbar haben sie in den letzten Jahren an Vertrauen bei den Selbstständigen eingebüßt, auch wenn sie immer noch überproportional von ihnen gewählt werden.

Und das Wahlverhalten der Selbstständigen gegenüber der AfD? Als die AfD 2013 das erste Mal zur Bundestagswahl antrat, damals noch als europakritische Partei mit wirtschaftsfreundlichem Programm, wählten Selbstständige sie überproportional häufig (+28 Prozent Aufschlag gegenüber dem Gesamtergebnis. Das verkehrte sich bei den Wahlen 2017 und 2021 ins Gegenteil. 2025 entsprach das Wahlverhalten der Selbstständigen bei der AfD genau dem Bevölkerungsdurchschnitt (21 versus 20,8 Prozent, wobei es sich hierbei um eine Rundung handeln kann. Die Angaben für Teilgruppen wie Selbstständige rundet infratest dimap auf volle Prozentpunkte).

Wen die Selbstständigen seltener wählten

Unterproportional häufig wählen Selbstständige die SPD (10,0 statt 16,4 Prozent, also mit 39 Prozent Abschlag), die Linken (7 statt 8,8 Prozent, 21 Prozent Abschlag) sowie das BSW (2 statt knapp 4,97 Prozent, 60 Prozent Abschlag). Schon seit 2013 muss die SPD einen deutlich höheren Abschlag bei den Selbstständigen hinnehmen als die Linken.

Selbstständige wählen stark überproportional FDP, kontinuierlich unterproportional die SPD

Ganz unabhängig vom Abstimmungsverhalten der Selbstständigen sehen viele Politiker und Beobachter/innen die Wahl vom Sonntag mit großer Sorge. Wenn es der neuen Regierung nicht gelingt, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, drohen 2029 österreichische Verhältnisse: Die AfD könnte ihr erklärtes Ziel erreichen, die Union zu überholen, zur stärksten Partei zu werden und die Regierungsbildung für sich beanspruchen. 

Anteil etablierter Parteien erodiert

Die folgende Abbildung veranschaulicht die Entwicklung seit der Gründung der Bundesrepublik: Die dunkelrote Linie ist der Stimmanteil der "großen", schwarz-roten Koalition. In der Spitze (1976) versammelten Union und SPD mehr als 90 Prozent aller abgegebenen Stimmen auf sich. Bei der aktuellen Wahl sind es erstmals weniger als 50 Prozent, genauer gesagt 45,0 Prozent. Eine potenzielle Regierungsmehrheit kommt nur dadurch zustande, dass neben den sonstigen Parteien auch BSW und FDP an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert sind, und deshalb dieses Mal schon 43,1 Prozent der Stimmen für eine Mehrheit im Bundestag ausreichen.

Erstmals haben weniger als die Hälfte der Bürger für Union und SPD gestimmt

In der dunkelgrünen Linie stecken neben Union und SPD auch die Stimmenanteile von Grünen und FDP, soweit diese im jeweiligen Jahr dem Bundestag angehörten. Die gestrichelte hellgrüne Linie zeigt den theoretischen Stimmenanteil ohne die Auswirkungen der 5-Prozent-Hürde. Durch das Ausscheiden der FDP fällt die dunkelgrüne Linie dieses Jahr erstmals auf unter 60 Prozent. Das bedeutet: Für aus Parteien der Mitte bestehende Mehrheiten sind tendenziell mehr Parteien der Mitte nötig. Diese müssen lagerübergreifend zusammenarbeiten. Das belastet ihre Handlungsfähigkeit und enttäuscht ihre Wähler im jeweiligen rechten oder linken Lage, weil ihre jeweilige Parteie zwangsläufig mehr Kompromisse eingehen muss. Ein sich selbst verstärkender Prozess, den es zu durchbrechen gilt.

Sind Programm, Person oder Parteibindung entscheidend?

Oft berichten Wahlforscher über Wählerwanderungen. Nicht ganz so bekannt, aber genau so spannend sind andere Zahlen, die infratest dimap erhebt: Parteiübergreifend gaben am Sonntag 64 Prozent der direkt nach der Wahl Befragten an, das Programm der Partei sei ausschlaggebend für ihre Entscheidung gewesen. Nur für 19 Prozent war es die Person des oder der Spitzenkandidat/in. 15 Prozent nannten ihre langfristige Parteibindung als entscheidend.

Interessant sind die Unterschiede zwischen den Parteien: Die SPD hat mit 26 Prozent die höchste langfristige Parteibindung. Dies könnte allerdings auch an ihrem schlechten Wahlergebnis liegen. Die verbleibenden Wähler/innen könnten zu den "letzten Treuen" gehören. Union und Grüne weisen mit 18 und 16 Prozent eine leicht überdurchschnittliche Parteibindung auf. Bei Linke, AfD und BSW ist die Parteibindung dagegen nur einstellig.

Dafür spielen bei BSW und AfD mit 24 bzw. 23 Prozent ihre Spitzenkandidatinnen Sarah Wagenknecht und Alice Weidel jeweils eine wichtige Rolle. Die Linke wird mit 79 Prozent am stärksten wegen ihres Programms gewählt, gefolgt von FDP (71 Prozent) und Grünen (70 Prozent).

Wahl aus Überzeugung oder Protest?

Ihre Partei aus Überzeugung gewählt haben 59 Prozent aller Befragten, eher aus Enttäuschung über andere Parteien wählten 36 Prozent. Die größten "Überzeugungstäter" sind die Wähler der Grünen und Linken (79 bzw. 68 Prozent), gefolgt von der Union (63 Prozent). Die meisten "Frustwähler" weist das BSW auf, das eine Mehrheit von 52 Prozent aus Protest wählt. Es folgen AfD – und überraschend – Union und FDP mit jeweils 39 Prozent. 39 Prozent der AfD-Wähler, das entspricht 8,1 Prozent aller Wähler.

Bei der vierten Bundestagswahl, an der die AfD teilnahm, wählten sie andererseits 54 Prozent ihrer Wähler aus Überzeugung, das sind 11,2 Prozent aller Wähler. Sie verfügt inzwischen also über eine erhebliche Zahl von Stammwählern, die nicht so leicht zurückzugewinnen sein dürften.

Welche Schlussfolgerungen zieht ihr aus den Wahlanalysen? Was sollten die Parteien tun, um bis 2029 möglichst viele Wähler (zurück)zugewinnen?

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