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Lesetipp Wie die Politik Selbstständige ausbremst – ein Experte redet Klartext "Selbstständige brauchen mehr Verlässlichkeit"

DIW-Forscher Alexander Kritikos erklärt, warum Selbstständige es derzeit schwer haben, weshalb die Stimmung vor Jahren schon deutlich besser war – und was sich dringend ändern müsste.

Eine Welle an bürokratischen Vorschriften droht viele Selbstständige zu überfordern, sagt Alexander Kritikos.

Die Zukunftsaussichten für Selbstständige und Kleinstunternehmerinnen haben sich zuletzt erholt. Viele blicken sogar optimistischer auf die kommenden Monate als die Gesamtwirtschaft. Fast jeder fünfte sieht sich jedoch weiterhin in seiner Existenz bedroht

Anfang der 2010er Jahre war die Stimmung deutlich besser. Damals veröffentlichte Alexander Kritikos, Experte für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), zusammen mit Kollegen eine vielbeachtete Studie. Im Interview blickt er zurück auf die bisherige Hoch-Zeit der Selbstständigen in Deutschland, was danach falsch gelaufen ist - und wie es wieder aufwärts gehen könnte.  

Herr Professor Kritikos: Sie sind Experte für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Zunächst einmal ganz allgemein: Wie beurteilen Sie die Stimmung unter den Selbstständigen aktuell in Deutschland? 

Alexander Kritikos: Verglichen mit anderen europäischen Ländern liegen wir wohl im Mittelfeld. Vielen Selbstständigen stecken sicherlich noch immer die Erfahrungen aus der Pandemie in den Knochen. Gleichzeitig haben auch der Ukraine-Krieg, die Inflation und die gestiegenen Energiepreise mächtig ins Kontor geschlagen. Und natürlich sehen viele Selbstständige, dass sich die Politik noch immer nicht im angemessenen Maße für sie einsetzt. Angesichts des Fachkräftemangels ist es deshalb nicht verwunderlich, dass manche Selbstständige ihre Arbeit zugunsten einer abhängigen Beschäftigung aufgeben. 

Vor elf Jahren sah die Lage anders aus: Damals veröffentlichten Sie mit Kollegen die Studie "Selbstständigkeit in Deutschland: Der Trend zeigt seit langem nach oben". Wenn man die Studie heute liest, fällt auf, wie optimistisch Sie waren. Was hat sich seither verändert?

Vor allem haben sich die Vorstellungen der Politik geändert: Damals herrschte die Meinung, dass zum Beispiel auch für Arbeitslose der Schritt in die Selbstständigkeit sinnvoll sein kann. Denken Sie an die Hartz-Reformen der Schröder-Regierung: Damals wurde die sogenannte Ich-AG zusätzlich zum Überbrückungsgeld eingeführt, und zum ersten Mal wurde politisch aktiv für Selbstständigkeit geworben. Dementsprechend herrschte eine regelrechte Aufbruchstimmung.  

Diese Phase dauerte aber nicht lange. 

Nein, tatsächlich gab es 2012 einen Bruch. Die damalige Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat den Gründungszuschuss von einem Instrument mit Pflichtanspruch zu einer Ermessensleistung umgewandelt. Zusätzlich wurde die Selbstständigkeit - etwa die Ich-AG als "Kümmer-Existenz" – diskreditiert. Im Laufe der 2010er Jahre erlebte Deutschland dann einen Boom bei den abhängig Beschäftigten. Dieser Kurswechsel reicht bis heute: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat etwa in seinem Wahlkampf mehr "Respekt" für abhängig Beschäftigte eingefordert – und Selbstständige explizit ausgeschlossen. Insgesamt gab es also in den vergangenen Jahren einen Wandel der Politik zu Lasten der Selbstständigen. Viele Probleme rund um die soziale Absicherung beim Wechsel zwischen abhängiger und selbständiger Tätigkeit oder bei einer konsistenten Rentenversicherung für Selbstständige bleiben seit langer Zeit ungelöst. 

Diese diskriminierende Behandlung über die vergangenen Jahre lässt sich auch an Zahlen festmachen: 2012 gab es in Deutschland rund 4,3 Millionen Selbstständige, heute sind es nur noch rund 3,9 Millionen. Hinzukommt, dass der Anteil der Selbstständigen an allen Erwerbstätigen mit 8,6 Prozent so niedrig wie nie zuvor ist.

So ist es, wobei man bedenken muss, dass der Anteil der Selbstständigen vor allem deshalb so drastisch gesunken ist, weil immer mehr Menschen abhängig beschäftigt sind. 

Alexander Kritikos, Experte für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung am DIW in Berlin.

Wie könnte man aus ihrer Sicht wieder mehr Schwung in die Selbstständigkeit bringen?

Zum einen müssen die Fragen rund um die soziale Absicherung angegangen werden: Der Wechsel zwischen unterschiedlichen Erwerbsformen muss leichter möglich werden; bis jetzt ist das ein gewaltiger bürokratischer Aufwand. Noch dazu führt das dazu, dass man zum Beispiel bei Rentenbeginn seine Ansprüche aus verschiedenen Töpfen zusammenkratzen muss. Zweitens sollte man über eine Wiederbelebung des Gründungszuschusses nachdenken: Der könnte dazu genutzt werden, dass Selbstständige, die während der Pandemie ihre Arbeit aufgeben mussten, zu einer Neu-Gründung motiviert werden. Und drittens: Ein Abbau der Bürokratie. Seit Jahren gibt es immer mehr umständliche Berichtspflichten. Vor allem für Solo-Selbstständige oder Kleinstbetriebe bedeutet das einen enormen Aufwand. Da muss man sich schon fragen, ob das alles nötig und sinnvoll ist. 

Sind Sie für ein Revival der Ich-AG?

Es muss nicht unbedingt ein Revival sein, aber einzelne Elemente dieses Instruments haben sicherlich gut funktioniert. Aus meiner Sicht waren das die Laufzeit und die Förderhöhe, die unabhängig vom vorherigen Einkommen gezahlt wurden. Vor allem Frauen haben dieses Angebot in großer Zahl genutzt. Diese Erfahrungen sollten in zukünftige Förderprogramme einfließen. 

Was wäre eine Lehre aus der Corona-Pandemie? Es ist schließlich nicht auszuschließen, dass in einigen Jahren die nächste Krise kommt.  

Die wichtigste Lektion ist, dass die Herangehensweise der Politik, knapp zehn aufeinander folgende Hilfsprogramme aufzulegen, ineffizient war und die vielen Programme sich zu einem Bürokratiemonster entwickelt haben. Für die Zukunft wird es wichtig sein, den Selbstständigen beim Eintreten externer Schocks mehr Verlässlichkeit zu bieten, zum Beispiel indem es künftig nur noch ein einziges, bundesweites Programm gibt, aus dem sofort ersichtlich ist, mit welchen Hilfen Selbstständige wann rechnen können. Es kommt darauf an, künftig Instrumente zu haben, mit denen Selbstständigen, etwa über die Finanzämter, gezielt und schnell geholfen werden kann. Das darf natürlich ausschließlich für krisenbedingte Umsatzeinbrüche gelten wie bei der Corona-Pandemie, die die Selbständigen nicht zu verantworten haben. Die Finanzämter verfügen über die besten Informationen, um die Hilfen zielgerichtet zu verteilen. Im Großbritannien wird das bereits in ähnlicher Weise erfolgreich praktiziert. 

Sie forschen seit Jahrzehnten zum Thema Selbstständigkeit. Was interessiert Sie derzeit am meisten?

Vor allem die Frage: Was veranlasst Selbstständige zu wachsen? Die zentrale Aufgabe der nächsten Jahre wird sein, Selbstständige mit Wachstumspotenzial an bestimmte Standorte zu locken. Und leider wird noch immer viel zu wenig auf die institutionellen und regulatorischen Rahmenbedingungen geachtet und viel zu wenig reformiert.

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