Rund 39.000 physiotherapeutische Praxen gibt es in Deutschland, etwa die Hälfte der 178.000 angestellten Physiotherapeuten ist in einer solchen Praxis beschäftigt, zusätzlich dürften in größeren Praxen im Schnitt ein bis zwei freiberufliche Physiotherapeuten tätig sein – zumindest bisher.
Ende letzten Jahres hat die Deutsche Rentenversicherung (DRV) ihre langjährige Verwaltungspraxis überraschend geändert und erkennt die Selbstständigkeit dieser freien Physiotherapeuten in Statusfeststellungsverfahren nicht mehr an.
Damit zwingt sie die Therapeuten in eine schlechter bezahlte Anstellung. Viele geben unter diesen Umständen den Beruf ganz auf, obwohl sie Spaß an der Arbeit haben und großer Bedarf nach Physiotherapeuten besteht. Im Interview berichtet VGSD-Mitglied Alexandra Walz (35) über die Entwicklung.
Große Nachfrage bei Praxen für selbstständige Therapeuten
VGSD: Seit wann bist Du als Physiotherapeutin selbstständig?
Alexandra Walz: Ich bin seit 2008 als Physiotherapeutin, als Sport- und Gymnastiklehrerin bereits seit 2005 selbstständig.
Frage: Du organisierst ein Netzwerk von freien Physiotherapeuten, die sich auf Urlaubs- und Krankheitsvertretungen spezialisiert haben.
Antwort: Ja, wir springen auch ein, wenn aus anderen Gründen akuter Personalmangel herrscht. Mein Vater ist auch Physiotherapeut und hat vor 12 Jahren mit solchen Vertretungen begonnen. Die Nachfrage der Praxen war so groß, dass wir immer mehr selbstständige Therapeuten in das Netzwerk aufgenommen haben. Ich habe die Aufgabe 2011 von ihm übernommen und vermarkte das Netzwerk unter dem Namen „mobile Physios“. Ich betreue die Mitglieder und unterstütze sie bei ihrer Werbung, wobei jeder unter eigenem Namen auftritt. Ich helfe mit Werbemitteln wie Aufsteller, Visitenkarten, Briefpapier usw. Die sind wichtig, damit die Patienten in der Praxis erkennen, dass es sich um externe Mitarbeiter handelt.
Frage: Wer ist Auftraggeber?
Antwort: Die jeweilige Praxis. Die Therapeuten teilen sich ihre Zeiten selbst ein und vereinbaren mit den Praxen bestimmte Tage oder Zeiten, in denen sie dann Patienten behandeln. In der Regel sind sie parallel in zwei, drei, vier Praxen und/oder für Firmen und Privatkunden tätig, über das Jahr hinweg für sechs bis 15 verschiedene Kunden. Die Rezeptabrechnung muss über den Praxisinhaber laufen, der über die Kassenzulassung verfügt und dafür speziell ausgestattete Räume benötigt. Mit Privatpatienten kann man direkt abrechnen.
Frage: Ihr macht viele Krankheits- und Urlaubsvertretungen und springt bei Personalmangel ein?
Antwort: Richtig, die - häufig chronisch kranken - Patienten wollen schließlich zeitnah und ohne Unterbrechung behandelt werden. Das Verschreibungsverhalten der Ärzte schwankt zudem erheblich und wir unterstützen dann flexibel in Zeiten mit besonders hoher Nachfrage. Wir hatten auch schon öfter den Fall, dass wir einen allein arbeitenden Praxisinhaber vertreten haben, der durch schwere Krankheit ausgefallen ist. In solchen Fällen sind wir die Einzigen, die die Praxis schmeißen können. Andernfalls müsste er die Praxis schließen, verliert seinen Patientenstamm und damit seine Existenz.
Frage: Ich habe gelesen, dass zurzeit ein akuter Mangel an Pyhsiotherapeuten herrscht. Ist das richtig?
Antwort: Ja, immer weniger Leute wollen diesen Beruf ausüben, weil er nicht so gut bezahlt ist und es in den letzten Jahren durch Einsparungen seitens der Kassen erhebliche Unsicherheiten über die Zukunftsperspektiven gab. Es gibt mittlerweile weniger Männer als früher, die den Beruf ausüben, denn mit dem Angestelltengehalt kann man in der Regel keine Familie ernähren. Praxisinhaber mit Angestellten müssen oft längere Zeit nach geeigneten festangestellten Mitarbeitern suchen. Dann greifen sie auf uns zurück, damit sie Patienten nicht abweisen müssen, während sie einen festen Mitarbeiter suchen.
Bisher Win-win-Situation für Freiberufler und Praxisinhaber
Frage: Warum bieten sie dann nicht den freien Mitarbeitern eine Stelle an?
Antwort: Es gibt einige Praxisinhaber, die meine Kollegen gerne anstellen würden. Manche von ihnen haben angenommen, die meisten aber ziehen so wie ich das Freie vor. Ich brauche diesen Wechsel, bin dann nicht so gebunden, kann flexibel arbeiten, muss mich nicht den Regeln des Praxisinahbers unterwerfen - und verdiene auch besser.
Man kann bis abends um neun arbeiten, wenn man Lust hat, oder wie bei mir ab zwei für meine Tochter da sein. Für Mütter ist das ein super Job. Vielen von uns ist auch wichtig, dass wir die Fortbildungen machen können, die uns interessieren und für die wir am Markt Nachfrage sehen – und nicht die, die der Praxisinhaber gut findet. Dafür bezahlt man die Fortbildung dann natürlich selbst, erhöht aber auch den eigenen Marktwert.
Frage: Du sprichst von einem höheren Verdienst bei gleicher Arbeitszeit. Reicht der Mehrverdienst von Selbstständigen, um sich sozial abzusichern?
Antwort: Berufsanfänger in Anstellung verdienen in unserem Beruf zwischen 1.800 und 2.000 Euro brutto, es bleiben dann netto 1.000 bis 1.200 Euro. Mit Berufserfahrung und Fortbildungen erreicht man als Angestellter später typischerweise 2.500 bis 2.800 Euro brutto. Freie Physiotherapeuten verdienen bei gleicher Arbeitszeit brutto um die 3.500 bis 4.000 Euro – im Schnitt also 40 Prozent mehr.
Frage: Wie sorgen die Mitglieder Eures Netzwerks für ihr Alter vor?
Antwort: Die Altersvorsorge ist bei uns Selbstständigen zwar grundsätzlich freiwillig, aber die Mitglieder unseres Netzwerks müssen sich privat und/oder gesetzlich rentenversichern, von allen neuen Mitgliedern verlangen wir mittlerweile einen Nachweis darüber.
Frage: Warum beauftragen Euch die Praxen, wenn Ihr teurer seid, als fest angestellte Mitarbeiter?
Antwort: Nicht nur wir verdienen mehr, auch die Praxen profitieren. Die Inhaber können erst mal sich selbst und ihre Mitarbeiter gut auslasten, verdienen also selbst auch mehr bzw. haben eine höhere Jobsicherheit. Wir sind da, wenn wir gebraucht werden und wieder weg, wenn kein Bedarf mehr ist. Deshalb gibt es Riesenbedarf nach unserer Dienstleistung. Das Geschäft lief die letzten zwölf Jahre wie Schnitzel, wir konnten uns wirklich nicht über einen Mangel an Aufträgen beschweren.
Auftraggeber verunsichert aufgrund veränderter Entscheidungspraxis der Rentenversicherung
Frage: Trotzdem habt ihr momentan mit einem Einbruch zu kämpfen?
Antwort: Ja, letztes Jahr waren wir noch 22 Therapeuten, jetzt sind wir 14. Wir waren überregional tätig, auch in Ost- und Norddeutschland. Jetzt nur noch im Großraum Stuttgart. Das Problem ist die Verunsicherung durch die Deutsche Rentenversicherung. Deshalb sind wir froh, dass der VGSD sich des Themas angenommen hat und die Situation an die Öffentlichkeit bringt.
Die Verbände der Physiotherapeuten, in denen in erster Linie Praxisinhaber Mitglied sind, schlagen keine Lösungen vor, sondern warnen nur vor freien Mitarbeitern, verunsichern damit die Praxen, die uns dann nicht mehr beauftragen. Wir sind von diesen Verbänden enttäuscht und fühlen uns mit unseren Problemen im Stich gelassen.
Den Inhabern und ihren Mitarbeitern ist auch nicht geholfen. Sie müssen Überstunden machen, auf Urlaub verzichten, trotz Krankheit arbeiten und im Notfall Patienten abweisen.
Frage: Was hat sich an der Gesetzeslage geändert?
Antwort: Am Gesetz hat sich nichts geändert, nur an der Entscheidungspraxis der Rentenversicherung. Die letzten zwölf Jahre lief die Zusammenarbeit mit der DRV völlig unkompliziert. Alle neu ins Netzwerk eintretenden Therapeuten haben ein Statusfeststellungsverfahren durchgeführt, das auch immer die Selbstständigkeit bestätigte. Zwar ist der Beruf des Physiotherapeuten grundsätzlich versicherungspflichtig, nicht aber wenn man Angestellte oder mehrere Auftraggeber hat. Das ist bei uns durchweg der Fall, typischerweise arbeiten wir wie gesagt für zehn bis 15 verschiedene Auftraggeber pro Jahr, darunter Praxen, Firmen und Privatpatienten.
Zum 1.11.2014 änderte die DRV dann plötzlich ihre Praxis und verlangt nicht mehr pro Auftragnehmer, sondern für jeden Auftraggeber eine Statusfeststellung, was natürlich bedeutet, dass jedes Netzwerkmitglied pro Jahr zehn bis 15 Statusfeststellungsverfahren parallel durchführen müssen, auch wenn der Ablauf immer derselbe ist und wir die immer gleichen, nur leicht variierten Standardschreiben bekommen. Ein enormer bürokratischer Aufwand.
Bürokratischer Aufwand hat sich vervielfacht - und die Rentenversicherung lehnt plötzlich alle ab
Frage: Wie ist der Ablauf genau?
Antwort: Jeder von uns muss pro Auftraggeber ein siebenseitiges Formular ausfüllen. Wir kennen das Procedere und legen gleich umfangreiche Anlagen bei. Dann erhalten wir einen Katalog mit 30 Fragen, von denen mindestens 20 eigentlich schon durch diese Anlagen beantwortet sind. Wir beantworten sie natürlich trotzdem. Dann kommt die Anhörung, die DRV schreibt: „Wir beabsichtigen eine abhängige Beschäftigung festzustellen“. Sie begründet dies und man kann Gegenargumente vorbringen. Auch wenn man das ganz dezidiert tut, Urteile aufführt, Fragen stellt usw. erhält man daraufhin den Bescheid, in dem die Argumente für die abhängige Beschäftigung identisch wiederholt werden. Auf die Gegenargumente wird nicht oder nur oberflächlich eingegangen. Wenn man auf höchstrichterliche Urteile hinweist, erhält man mit Glück den Verweis auf ein Urteil der ersten Instanz – auch wenn man x Urteile der gleichen Instanz mit entgegen stehenden Entscheidungen angeführt hat.
Frage: Im Gegensatz zu früher lehnt die DRV die Statusfeststellungen ab?
Antwort: Richtig. An der Gesetzeslage hat sich nichts geändert und auch nicht an unserer Zusammenarbeit mit den Praxen, aber die DRV hat offenbar intern entschieden, dass man als Physiotherapeut ohne eigene Praxis nicht mehr selbstständig sein darf. Meine Kollegen haben natürlich alle Widerspruch eingelegt, zwei dieser Widersprüche sind bereits abgelehnt worden, jetzt stehen uns Rechtsstreite vor dem Sozialgericht bevor.
Wir haben zwei Alternativen: Entweder die Gerichtsverfahren durchziehen oder die Selbstständigkeit beenden. Von den 14 Therapeuten in unserem Netzwerk hören zum Jahresende noch einmal zwei auf, lassen sich anstellen. Einige kämpfen zusammen mit mir vor Gericht, weil sie weiter selbstständig sein wollen. Andere überlegen, den Beruf aufzugeben, weil sie ihn nicht als Angestellte fortführen wollen.
"Es ist bitter, denn eigentlich haben wir alles richtig gemacht."
Frage: Mit welchen Argumenten lehnt die Rentenversicherung die Selbständigkeit ab?
Antwort: In einigen Verträgen ist die Erstattung von Anfahrtskosten ab 20 Kilometern Fahrtweg vereinbart. Das sei ein Indiz für Scheinselbstständigkeit. Aus den mitgeschickten Abrechnungen ist zu erkennen, dass in der Praxis, auf die es ja bei der Beurteilung eigentlich ankommt, keine Anfahrtskosten in Rechnung gestellt wurden.
Dass wir bei Kranken- und Urlaubsvertretungen neben den Inhabern auch Angestellte vertreten, spräche gegen uns. Dass sich unsere Aufgaben unterscheiden, wir nur die Therapie durchführen und keine anderen Tätigkeiten der Angestellten übernehmen, wird ignoriert. Auch dass wir unter eigenem Firmennamen auftreten, keine Weisungen erhalten usw.
Wer sich weiterhin selbstständig betätigen möchte, sollte auf keinen Fall eine Statusfeststellung mehr durchführen. Ein Mitarbeiter der DRV hat uns gesagt: „Wenn Sie ein Statusverfahren machen, sind Sie nicht sicher, ob sie selbständig sind, also sind sie abhängig beschäftigt.“
Frage: Wie fühlt sich das Ganze für Dich an?
Antwort: Es ist bitter, denn eigentlich haben wir alles richtig gemacht, jeder von uns hat ein Statusfeststellungsverfahren durchgeführt, ist stolz selbstständig zu sein und dokumentiert das auch nach außen, sorgt für das Alter vor und leistet etwas, nach dem offensichtlich große Nachfrage besteht.
Ich fühle mich der Bürokratie ausgeliefert und zweifle ehrlich gesagt zunehmend an unserem Rechtsstaat. Das Bundessozialgericht hat in drei Urteilen 1989, 1995 und 2003 beschieden, dass man als Physiotherapeut auch ohne Kassenzulassung selbstständig sein kann. 2014 wurde das dann in einem erstinstanzlichen Urteil in Bayern und später auch in Bremen in Frage gestellt. Darauf sprang die DRV an und beruft sich nun in allen Statusfeststellungen darauf. Sie ignoriert anderslautende neuere Urteile ebenso wie die höchstrichterliche Rechtsprechung.
Frage: Kann die DRV geltendes Recht und BSG-Urteile einfach ignorieren? Sie sind doch zu einer Abwägung und Prüfung im Einzelfall verpflichtet.
Antwort: Ein DRV-Mitarbeiter hat uns am Telefon gesagt, sie hätten die Vorgabe alle Physiotherapeuten in die gesetzliche Rentenversicherung zu zwingen. Dann aber stellt sich mir die Frage, warum sie überhaupt noch Statusfeststellungsverfahren machen, wenn das Ergebnis ohnehin feststeht und die DRV sich der Sache so sicher ist. Dabei gibt es für diese Verwaltungspraxis keine gesetzliche Grundlage gibt.
Rechtssicherheit sieht anders aus. Letztes Jahr warst Du selbstständig, dieses Jahr bist du es nicht mehr – und musst Deine Existenz aufgeben. Nach meinem Rechtsgefühl darf man nicht so willkürlich vorgehen, auch nicht die Deutsche Rentenversicherung. Man hat das Gefühl, sie ignorieren alle Argumente, alle Verweise auf Urteile und selbst Aussagen auf ihrer eigenen Homepage. Sie suchen einfach nur nach passenden Argumenten für eine Ablehnung und halten sich dann die Ohren zu.
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