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Unter der Lupe EU-Richtlinienvorschlag zu Arbeitsplattformen

Ein neuer Richtlinienvorschlag will vordergründig Beschäftigte von Arbeitsplattformen in prekären Jobs absichern, droht aber einen Großteil der freiwillig Selbstständigen unter den Generalverdacht der Scheinselbstständigkeit zu stellen. In einem getrennten Beitrag beschreiben wir, welchen Sprengstoff die neue Regelung birgt. In diesem Artikel nehmen wir die geplante Arbeitsplattform-Richtlinie genau unter die Lupe und stellen die wichtigsten Knackpunkte im Detail vor.

Wir haben die vorgeschlagene EU-Richtlinie unter die Lupe genommen

Was ist genau eine "digitale Plattform"?

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Wenn im Entwurf von "digitalen Plattformen" die Rede ist, dann meint die EU-Kommission solche, "wie in diesem Vorschlag für eine Richtlinie definiert" (Richtlinienvorschlag). Wer nun eine feine Abgrenzung zu Unternehmen, die "irgendwas mit Internet machen" erwartet, wird enttäuscht. Ob und welches Geschäftsmodell genau darunter fällt und ob Auftraggeber oder Vermittler betroffen sind, bleibt alles andere als klar.

Der Plattform-Begriff wird in der Richtlinie sehr weit gefasst. Einzig "Anbieter von Dienstleistungen, deren Hauptzweck in der Nutzung oder im Angebot von Gütern besteht", sind ausgenommen.

Auszug aus Artikel 2 der Arbeitsplattform-Richtlinie: Welches Unternehmen fällt da nicht drunter?

Fast alles ist eine Plattform

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Eine Einschränkung auf bestimmte Branchen oder Unternehmensgrößen – mithin auf bestimmte große Internetkonzerne, die in der öffentlichen Diskussion als Negativbeispiele genannt werden – sieht der Richtlinientext nicht vor. Dass es auch anders geht, beweist der Digital Markets Act, eine Verordnung, die von 2023 an neue Wettbewerbsregeln für Internetkonzerne aufstellt – und auf Google, Apple, Facebook/Meta und Amazon ("GAFA") und einige europäische Plattformen dank qualifizierter Kriterien maßgeschneidert ist.

Die fehlende Abgrenzung erinnert an die DSGVO. Auch bei deren Einführung sprachen Politiker und Beamte viel über Facebook. Unter den Folgen der schwammig formulierten Verordnung leiden nun vor allem kleine Unternehmen, während die Internetgiganten aus dem Silicon Valley kaum Nachteile erfahren haben.

Nun wissen Juristen, dass zur Auslegung einer neuen Vorschrift auch der Blick in die Gesetzesbegründung und bei Richtlinien speziell in die Erwägungsgründe eines Vorschlags wichtig ist. Sie dienen dem Richter oder der Behörde später als Interpretationshilfe. Fatal: Sie sind aber nicht Gesetz und werden – so erklären Rechtswissenschaftler – auch gerne mal ignoriert.

Organisation ist alles?!

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Ausweislich der Richtlinienbegründung gilt die Richtlinie für "digitale Arbeitsplattformen, die in der Union geleistete Plattformarbeit organisieren, unabhängig vom Ort ihrer Niederlassung und unabhängig von dem ansonsten anwendbaren Recht." Ob Ride Hailing, Zustellung von Waren, Reinigungs- oder Pflegedienste oder Dienstleistungen wie Datenkodierung, Übersetzung oder Design: Je stärker die Organisation der Arbeit, desto schneller gilt sie als Arbeitsplattform.

Ausgeschlossen sein sollen laut Begründung

  • Online-Plattformen, die die Arbeit von Einzelpersonen nicht organisieren, sondern – ohne weiter involviert zu sein – lediglich die Mittel bereitstellen, mit denen Dienstleistungsanbieter den Endnutzer erreichen können, indem sie beispielsweise Angebot oder Nachfrage nach Dienstleistungen auflisten oder verfügbare Dienstleistungsanbieter in einem bestimmten Bereich aggregieren und anzeigen, sollten nicht als digitale Arbeitsplattform betrachtet werden.
  • Anbieter von Dienstleistungen, deren Hauptzweck in der Nutzung oder im Angebot von Gütern besteht (z. B. kurzfristige Vermietung von Unterkünften).

Welche Unternehmen nun konkret ausgeschlossen sein sollen, bleibt mehr als unklar. Es fehlen qualitative und quantitative Kriterien. Denn mal ehrlich: Welche "Plattform" bietet quasi nur ein digitales "schwarzes Brett" als Geschäftsmodell an und listet allein "Angebot und Nachfrage nach Dienstleistungen" auf? Mit einem solchen antiquierten Geschäftsmodell könnte man im Wettbewerb sicher nicht lange bestehen.

Kein Wunder, dass auch mehrere Ausschüsse des Bundesrats diesbezüglich erst einmal Daten und Fakten als Entscheidungsgrundlage fordern. In der entsprechenden Sitzung am 11. März 2022 erhielt die Bundesregierung den Auftrag, "die Datenlage zur Plattformökonomie zu verbessern und eine aussagekräftige Datengrundlage zu schaffen, die Auskunft über das Ausmaß der Plattformökonomie in Deutschland sowie zu den über digitale Arbeitsplattformen arbeitenden Personen, insbesondere zu deren Beschäftigungsstatus und Versicherungspflicht, gibt. In diese Untersuchungen sollen auch digitale Plattformen aus dem Ausland, die in Deutschland tätig sind, einbezogen werden." (Beschluss vom 11.03.2022)

Unsere Forderung: Mehr Rechtsklarheit durch klare Kriterien

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Für den VGSD und Partnerverbände aus der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbstständigenverbände (BAGSV) müssen die Kriterien klar und qualitativ wie quantitativ im Gesetzestext selbst normiert sein.

Dies äußerten wir bereits im Dezember 2021 bei einem Gespräch mit der Ständigen Vertretung in Brüssel sowie mit an der Formulierung der Richtlinie beteiligten Mitarbeitern der EU-Kommission Anfang März. Auf unsere Frage, welche Plattformen betroffen sein sollen und worin die genaue Unterscheidung von Vermarktungsplattformen und Arbeitsplattformen liegen soll, konnten uns die Kommissionsmitarbeiter keine befriedigende Antwort geben, außer dem Hinweis, dass "elektronische schwarze Bretter" nicht betroffen seien.

Was sind "Personen, die Plattformarbeit leisten" und "Plattformbeschäftigte"?

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Im Vorschlag heißt es: "Plattformarbeit ist jede Arbeit, die über digitale Plattform organisiert wird" . Weitere Kriterien: in der EU und auf Grundlage eines Vertragsverhältnisses. Diese Definition ist sehr weit.

Artikel 2 der geplanten Arbeitsplattform-Richtlinie: Diese Begriffe sollten klar definiert sein

Wer für eine Plattform tätig ist, ist entweder eine "Person, die Plattformarbeit leistet" oder ein "Plattformbeschäftigter".

Weitere Abgrenzungsmerkmale bietet der Richtlinienvorschlag nicht. Dass hier nahezu jede/r darunter fällt, der mittels Internet Selbstständige beauftragt und koordiniert, scheint offensichtlich.

Die neue gesetzliche Vermutung: Alle Arbeitnehmer, oder was?

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Zweiter Kernpunkt unserer Kritik ist die geplante widerlegbare gesetzliche Vermutung eines Arbeitsverhältnisses.

Wer über "Plattformen" seine Dienste anbietet, soll von Anfang an als Beschäftigter gelten. Gerichtsverfahren, die in einzelnen Mitgliedsstaaten in der Regel pro Beschäftigung ausfallen, sollen so überflüssig werden.

Denn: Künftig müssten die zu "Plattformen" deklarierten Unternehmen beweisen, dass der Auftragnehmer tatsächlich selbstständig ist. Für die Deutsche Rentenversicherung als zuständige Behörde wird es künftig wesentlich einfacher, Plattformen als Arbeitgeber zu bewerten. Artikel 4 der geplanten Richtlinie liefert hier das passende Werkzeug:

Artikel 4 Abs. 1 der Arbeitsplattform-Richtlinie: gesetzliche Vermutung vereinfacht Verwaltungsverfahren

Ein Arbeitsverhältnis wird automatisch vermutet, wenn die "Plattform" zwei von fünf – sehr niederschwelligen – Kriterien der "Arbeitskontrolle" erfüllt, wie ein Blick in Artikel 4 Abs. 2 des Richtlinienvorschlags zeigt.

Artikel 4 Abs. 2 der Arbeitsplattforn-Richtlinie: Mit zwei von fünf Kriterien gilt die "Plattform" zum Arbeitgeber

Plattformen in der Beweislast

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Wer nun die "gesetzliche Vermutung" schon kritisch findet, der wird auch hiervon überrascht sein: die Beweislastumkehr. Wer seinen Status als Selbstständiger durchsetzen will, wird die Hilfe der Plattform benötigen. Die geplante Beweislastumkehr bewirkt, dass die Plattform beweisen muss, dass echte Selbstständigkeit vorliegt.

Artikel 5 der Arbeitsplattform-Richtlinie: Plattformen wird der Einsatz echter Selbstständiger unnötig schwer gemacht

Mit einer gesetzlichen Vermutung und einer Beweislastumkehr für Plattformen wird es für Auftraggeber sukzessive uninteressant, Solo-Selbstständige zu engagieren. Auftraggeber werden so hohe Kosten haben um nachzuweisen, dass keine Beschäftigung vorliegt, dass Solo-Selbstständige EU-weit quasi mit einem Tätigkeitsverbot belegt werden.

Was bedeutet das für neue Geschäftsmodelle in Deutschland?

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Durch die geplanten Regelungen wird die Zusammenarbeit mit Selbstständigen via Internet erschwert, Innovationen bei der Zusammenarbeit werden zur Gefahrenquelle. Statt mit dem Programmierer wird man als Auftraggeber erst einmal mit dem Rechtsanwalt sprechen müssen. Die Innovationen geschehen dann nicht in Deutschland, sondern in anderen Ländern, vielleicht auch in anderen EU-Ländern, die die Richtlinie (wie schon bei der DSGVO) nicht so kleinteilig auslegen, wie wir es hier in Deutschland tun.

Die widerlegbare gesetzliche Vermutung geht weit über die Regeln, die wir in Deutschland zur Feststellung des Erwerbsstatus haben, hinaus. Dabei sollen die Regelungen, Start-Ups und kleine Unternehmen nicht über Gebühr belasten. Auf Seite 11 des Entwurfes heißt es hierzu:

"Diese Richtlinien dürfen keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder rechtlichen Auflagen vorschreiben, die der Gründung und Entwicklung von kleinen und mittleren Unternehmen entgegenstehen."

Doch de facto erstickt die Kommission neue Internetangebote, die über das Anbieten eines "schwarzen Bretts" im Internet hinausgehen, durch die Gefahr, grundsätzlich als Arbeitgeber eingestuft zu werden.

Ähnlich wie bei der DSGVO soll die Regulierung die schwarzen Schafe der Plattformökonomie treffen, tatsächlich drohen die vorgeschlagenen Regelung die gesamte Wirtschaft lahmzulegen.

Darf die EU diesen Bereich überhaupt regeln?

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Ob die EU Gesetzgebungskompetenz in diesem Bereich hat, ist offen. Wie die EU-Kommission selbst schreibt, stützt sie sich auf ihre Regelungshoheit für zwei Bereiche: Arbeitsbedingungen und Schutz von personenbezogenen Daten (beim Einsatz von automatisierten Überwachungs- und Entscheidungssystemen, die Plattformen zur Kontrolle und Bewertung von Arbeitsleistung einsetzen). Gerade letztere legt die EU sehr weitreichend aus, was wir kritisch sehen.

So darf die Union im Bereich des Arbeitsrechts die Tätigkeit der Mitgliedstaaten "unterstützen", indem sie "durch Richtlinien Mindestvorschriften erlässt, die schrittweise anzuwenden sind." Die vordergründige Regelung im Arbeitsrecht hat in Deutschland Auswirkungen auf das Sozialrecht, wo das Verfahren zur Statusfeststellung geregelt ist. Zum anderen gehen die geplanten Regeln zur Vermutung und Beweislastumkehr über das aktuell übliche Maß im deutschen Recht hinaus.

Wie schnell soll die Richtlinie kommen?

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Das Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene hat bereits wichtige Stationen genommen, bis Jahresende könnte es abgeschlossen sein.

In Deutschland besteht zudem die Bereitschaft, die Vorschriften möglichst rasch umzusetzen. So gab es bereits eine gemeinsame Veröffentlichung von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) mit seinem spanischen Amtskollegen, der bereits mit einer nationalen Regulierung der Plattformarbeit vorangeprescht ist. Beide begrüßten darin die vorgeschlagenen Regelungen.

Unser Ziel ist daher, noch bei der Richtlinie Änderungen herbeizuführen und gleichzeitig die nationalen Umsetzungsbemühungen kritisch zu begleiten.

Was schon passiert ist

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Mit der Präsentation eines Richtlinienvorschlags begann das Gesetzgebungsverfahren auf EU-Ebene. Die EU-Kommission hat am 9. Dezember 2021 den Vorschlag vorgestellt und an die Mitgliedsstaaten versendet, in Deutschland an den Bundesrat.

Seitdem nehmen Verbände, Gewerkschaften und andere Interessengruppen Einfluss – weitgehend unbemerkt von den Medien.

Die Ausschüsse des Bundesrats haben im März eine Beschlussempfehlung mit Änderungswünschen abgegeben. Zeitgleich haben wir unsere Bedenken bereits im Dezember und März in Brüssel vorgebracht, bei Gesprächen mit wichtigen Verbänden sowie Beamten auf Länderebene. Dabei haben wir die Notwendigkeit einer klareren Abgrenzung des Plattformbegriffs und von Kriterien hervorgehoben. Mitte Mai steht der Richtlinienvorschlag nun auf der Tagesordnung des Koalitionssauschuss.

Wie es weitergeht

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Für das EU-Verfahren haben wir folgende Schritte recherchiert: Änderungsanträge für das EU-Verfahren können laut Beteiligte bis 8. Juni eingebracht werden. Der Austausch mit Interessenvertretern soll Mitte Juni stattfinden. Am 17. Juni sollen die Änderungen zum Richtlinienvorschlag in allen Sprachen vorliegen. Die Änderungen sollen entweder am 11. und 12. Juli beraten werden – oder aber verschieben sich in den September. Die parlamentarische Abstimmung ist für den November angedacht.

Das genaue Zeitpunkt des Inkrafttretens ist noch unklar. Wir rechnen mit Frühjahr 2023. Ab dann haben die Mitgliedsstaaten zwei Jahre Zeit, die Regelungen in nationales Recht umzusetzen.

Fazit

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Die vorgeschlagene Richtlinie ist mit Blick auf in der öffentlichen Kritik stehende Plattformen entwickelt worden. Ihr fehlt aber eine nachvollziehbare, rechtssichere Abgrenzung gegenüber bestehenden und gewiss nicht ausbeuterischen Geschäftsmodellen, die ebenfalls die technischen Möglichkeiten des Internets nutzen wollen, um die Zusammenarbeit – auch mit Selbstständigen – effektiv zu organisieren.

Auch bei der Entwicklung des Kriterienkatalogs hatte die EU-Kommission offenbar nur die öffentlich diskutierten Plattformen im Blick und keinen Praxischeck in Hinblick auf andere Unternehmen vorgenommen, für die die Richtlinie nun aber auch gelten wird. Zwei der fünf Kriterien dürften bei fast jedem Selbstständigen gelten. Die vorgeschlagene EU-Richtlinie enthält jede Menge Sprengstoff, der schnellstens auf EU-Ebene entschärft werden muss. Statt uns effektiv vor Ausbeutung zu schützen, gefährdet sie unser Lebens- und Erwerbsmodell.

Mach selbst den Praxistest: Bist du nach dieser Richtlinie noch selbstständig?

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