Am Mittwoch hat eine vom Arbeitsministerium mit Millionenbeträgen geförderte Einrichtung, die in Konkurrenz zu VGSD und BAGSV eine Interessenvertretung für Selbstständige organisieren soll, ein Gutachten zur Altersvorsorgepflicht (AVP) vorgelegt. Es zeichnet ein extrem negatives Bild von Soloselbstständigen und fordert, alle Selbstständigen ohne viel Rücksicht auf eine bestehende private Altersvorsorge rentenversicherungspflichtig zu machen – und sogar kammerpflichtige Freiberufler. Was drei hochrangige politische Beamte anschließend zur AVP-Ausgestaltung sagten, lässt eine schwierige Auseinandersetzung erwarten.
Einladung vom Arbeitsministerium, Anmeldung bei ver.di
Die Einladung kam vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), die Anmeldung erfolgte dann auf der Seite des "Haus der Selbstständigen" (HdS), einer vom Ministerium mit sieben Millionen Euro finanzierten und von einer ver.di-Tochtergesellschaft betriebenen Einrichtung. Eine Gewerkschaft will also unter falscher Flagge unsere Interessenvertretung übernehmen.
Die Zahl der zugelassenen physischen Teilnehmer/innen an der in der Vertretung des Landes Brandenburg in Berlin durchgeführten Veranstaltung war begrenzt, Online-Teilnehmer durften keine Fragen stellen und es wurde keine Aufzeichnung der Veranstaltung erstellt.
Ablauf: Nach Vorstellung des Gutachtens diskutieren vier Beamte
Das HdS hat Professor Daniel Ulber von der Universität Halle-Wittenberg mit einem Rechtsgutachten zur "Mindestabsicherung von Selbstständigen in der Rentenversicherung" beauftragt, das er bei der Veranstaltung 30 Minuten lang vorstellte. (Agenda).
Anschließend diskutierte 75 Minuten lang eine hochrangige Runde über das Gutachten:
- Gundula Roßbach, die Präsidentin der Deutschen Rentenversicherung (DRV)
- Professor Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts (BSG) sowie
- Rolf Schmachtenberg, der als verbeamteter Staatssekretär für die Einführung der AVP im BMAS zuständig ist.
- Zudem nahm Professor Daniel Ulber am Panel teil.
Äußerst befremdlich: Ein Vertreter der Selbstständigen durfte an dem Panel nicht teilnehmen, die vier Beamt/innen blieben bei der Bewertung des Gutachtens unter sich. Als BAGSV-Sprecher Marcus Pohl fragt, warum kein Interessenvertreter der Selbstständigen mit am Tisch sitze, antwortet der Moderator schlagfertig: "Ich bin selbstständig. Und ich lebe das mit Haut und Haaren." Kritische Fragen stellt er jedoch entsprechend seiner Rolle keine… Auch mehrere Panelteilnehmer wiesen auf ihre selbstständigen Nebentätigkeiten hin, allerdings ohne zu erwähnen, dass diese als solche sozialabgabefrei sind, sie also in Bezug auf das Diskussionsthema selbst nicht betroffen sind. Ob jede/r Teilnehmer/in über die "lustige" Antwort des Moderators auf eine ernst gemeinte Frage lachen konnte?
Inhaltsübersicht
- Arbeitsrechtler Ulber erklärt zunächst, was die bereits rentenversicherungspflichtigen Selbstständigen gemeinsam haben
- Verschiebung des Schutzzweckes: Nicht Selbstständige schützen, sondern vor den Selbstständigen schützen
- Autor begründet Position mit längst wiederlegten Zahlen
- So denkt der Gutachter über Solo-Selbstständige
- Zu hohe prozentuale Beitragsbelastung? – Als Argument "von vorne herein untauglich"
- Auch Arbeitgeber und kammerpflichtige Freiberufler geraten ins Visier
- Gilt der Gleichheitsgrundsatz für Freiberufler, aber nicht für Beamte und Abgeordnete?
- Gegen Opt-out-Möglichkeiten zugunsten einer privaten Absicherung
- Gutachter stellt Verschonung bzw. Übergangsregelung für Bestandsselbstständige in Frage!
- Vom Koalitionsvertrag bleibt nicht mehr viel übrig
- Ulbers Vortrag stellt Politik "Carte Blanche" aus
- Diskussion: Subventionieren Angestellte Selbstständige oder ist es eher umgekehrt?
- RechtsUNsicherheit soll auch nach AVP-Einführung fortbestehen
- Nicht einmal Verlass auf Senkung der GKV-Mindestbeiträge!
- Ganz schön schwierig: Wie berechnen sich die Beiträge von Selbstständigen
- Ein möglichst unattraktives Opt-out bedeutet die Rentenversicherungspflicht durch die Hintertür
- Können wir uns auf die Verschonung von Bestandsselbstständigen wirklich verlassen?
- Altersvorsorgepflicht nur als erster Schritt, auf den weitere Maßnahmen folgen
- Wir fordern eine faktenbasierte und respektvolle Diskussion über die Zukunft unserer Altersvorsorge!
Arbeitsrechtler Ulber erklärt zunächst, was die bereits rentenversicherungspflichtigen Selbstständigen gemeinsam haben
Nach obenBevor wir auf die Stellungnahmen der Panel-Teilnehmer eingehen, zunächst zum Inhalt des sozialrechtlichen Gutachtens und zur Person von Professor Daniel Ulber: Er hat zum Thema "Tarifdispositives Gesetzesrecht im Spannungsfeld von Tarifautonomie und grundrechtlichen Schutzpflichten" an der Universität Köln zum Dr. jur. promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen vor allem im Bereich des Arbeitsrechts. Sein akademischer Ziehvater ist Professor Ulrich Preis, der schon in der Vergangenheit bei BMAS-Workshops als entschlossenen Befürworter einer Rentenversicherungspflicht für Selbstständige in Erinnerung geblieben ist. unter anderem durch den augenzwinkernden Hinweis an die damals anwesenden Beamten, mit der Einführung der AVP könne man eine Diskussion über die Einbeziehung anderer Gruppen von Erwerbstätigen vermeiden.
Interessant für Betroffene ist Ulbers erstes Hauptkapitel "Historische Entwicklung des versicherten Personenkreises in der gesetzlichen Rentenversicherung" zu lesen. Darin zeichnet Ulber nach, wie es zu dem Flickenteppich an Berufen kam, die heute bereits rentenversicherungspflichtig sind: 1922 kamen mit Hausgewerbetreibenden, Lehrern, Erziehern und in der Krankenpflege Tätigen die ersten Selbstständigen zu den Arbeitern und Angestellten hinzu. 1929 folgten Hebammen und Musiker, 1938 unter den Nazis Handwerker, Artisten sowie Küstenschiffer und -fischer sowie gegen Ende des Krieges im Jahr 1943 auch Selbstständige in der Wochen-, Säuglings- und Kinderpflege. 1957 wurde für Landwirte ein eigenes Vorsorgewerk geschaffen. 1970 kamen Seelotsen hinzu. Seit 1972 kann man sich als Selbstständiger auf Antrag gesetzlich rentenversichern. 1981 wurden Künstler und Publizisten zu Pflichtversicherten, 1999 folgte die Regelung für arbeitnehmerähnliche Selbstständige. "Es ist, als ob man mit einer Schrotflinte in einen Raum feuert und schaut wer liegen bleibt" beschrieb Ulber die Entwicklung in seinem Vortrag.
"Historisch betrachtet war und ist die Einbeziehung Selbstständiger in das System der gesetzlichen Rentenversicherung immer eine Ausnahme und war damit rechtfertigungspflichtig" schreibt er in dem Gutachten. Die Begründung sei bis heute durchgängig gewesen, dass bei diesen Berufen eine individuelle Schutzbedürftigkeit vorgelegen habe, die sie Arbeitern und Angestellten vergleichbar machte. Dem Rest der Selbstständigen hätte man dagegen Sparfähigkeit und Sparbereitschaft unterstellt und nach dem Subsidiaritätsprinzip auf ihre Eigenvorsorge vertraut.
Verschiebung des Schutzzweckes: Nicht Selbstständige schützen, sondern vor den Selbstständigen schützen
Nach obenHeute – und das habe sich geändert - gehe es aber nicht so sehr um den Schutz des Einzelnen, sondern den der Allgemeinheit – und zwar vor den Selbstständigen. Diese würden – zugespitzt formuliert - nicht genug sparen und den hart arbeitenden Arbeitern und Angestellten im Alter auf der Tasche liegen.
Ulber zitiert hier den als Podiumsteilnehmer anwesenden BSG-Präsident Rainer Schlegel: "Diese Veränderungen haben eine Verschiebung beim Schutzzweck der gesetzlichen Rentenversicherung zur Folge, den Schlegel als 'grundlegenden Funktionswandel der Sozialversicherung' bezeichnet: Heute steht nicht mehr der Individualschutz im Fokus, sondern der Schutz der Allgemeinheit".
Im Mittelpunkt von Ulbers Argumentation steht die Unterstellung, Selbstständige könnten aufgrund ihrer prekären Einkommensverhältnisse nicht vorsorgen und wo sie es könnten würden sie es oft nicht tun – und wären deshalb im Alter überproportional auf Grundsicherung angewiesen.
So behauptet er: "Bei den Solo-Selbstständigen hatten 2013 über 50 Prozent keinerlei Form der Altersabsicherung, außerdem war ein Aufwärtstrend hinsichtlich der fehlenden Altersvorsorge zu erkennen." – Er bezieht sich dabei auf eine längst widerlegte Behauptung von Andrea Nahles, die lediglich zwei Formen der Altersvorsorge (freiwillige Rentenversicherung und Kapitallebensversicherungen ab einer bestimmten Höhe) berücksichtigte, nicht aber die bei Selbstständigen vorherrschenden Formen der Altersvorsorge wie Immobilien, private Rentenversicherungen sowie ETFs und weitere Wertpapieranlagen. Richtig wäre die Aussage gewesen: Jeder zweite Solo-Selbstständige zahlt zum Befragungszeitpunkt weder Beiträge in die gesetzlichen Rentenversicherung noch in eine Lebensversicherung mit mehr als 50.000 Euro Vertragswert ein, sondern vermutlich in andere Formen der Altersvorsorge – nach denen im Mikrozensus aber nicht gefragt wird.
Karl Brenke, dem Autor der Studie, auf die sich Nahles damals bezog, ließ deren Fehlinterpretation durch Politiker und Medien keine Ruhe, so dass er die Altersvorsorge von Selbstständigen anhand umfassenderer Quellen nochmals genauer unter die Lupe nahm und 2016 den bis heute maßgeblichen Aufsatz über die Altersvorsorge von Selbstständigen schrieb mit dem Titel: "Die allermeisten Selbstständigen sorgen für ihr Alter vor oder verfügen über Vermögen" (Zusammenfassung).
Hier wie an anderer Stelle fällt auf, dass Ulber für seine Behauptungen oft nur eine Quelle – bevorzugt aus dem Gewerkschaftsumfeld – nennt und nicht auch Veröffentlichungen berücksichtigt, die eine abweichende Position vertreten.
Vergleich von (auch) geringfügig Selbstständigen mit nicht geringfügigen Angestellten
Solche Quellen ignoriert Ulber und stützt sich stattdessen auf eine Studie des IZA im BMAS-Auftrag (Tabelle 5.1), wonach das Medianeinkommen von Solo-Selbstständigen niedriger sei als das von Angestellten, allerdings ohne darauf hinzuweisen, dass hier Äpfel mit Birnen verglichen werden: Bei den Angestellten sind nämlich die zuletzt 4,15 Millionen Minijobber nicht berücksichtigt, bei den Selbstständigen aber sehr wohl Selbstständige mit Nebentätigkeiten von unter 520 Euro. Es werden also nicht geringfügig tätige Angestellte mit auch geringfügig tätigen Selbstständigen verglichen.
Die darauffolgende Tabelle 5.2, die den Haushaltskontext mit berücksichtigt, zeigt übrigens ein anderes Bild von der Einkommenssituation von Selbstständigen-Haushalten, obwohl auch hier bei den Angestellten (anders als bei den Selbstständigen) solche mit geringfügigem Einkommen nicht ausgewertet wurden.
Den wichtigen Unterschied zwischen "Selbstständigen" und "zuletzt Selbstständigen" ignoriert
Schließlich verweist Ulber darauf, dass Selbstständige im Alter häufiger auf Grundsicherung angewiesen seien als Angestellte. Er verschweigt dabei, dass es sich um einen Personenkreis handelt, der vor dem Renteneintritt "zuletzt selbstständig" war. Wir wissen alle, dass insbesondere in den 2000er Jahren viele ältere Arbeitnehmer ihre Anstellung verloren haben oder vielleicht auch schon längere Zeit arbeitslos waren und vom Staat in eine Selbstständigkeit gedrängt wurden. Hinter den "zuletzt selbstständigen" dieser Statistik dürften also weniger verantwortungslose Selbstständige stehen, die ihr Einkommen verprasst haben, um es sich dann später mit der Grundsicherung im sozialen Netz bequem zu machen, sondern vor allem Menschen, die altersbedingt oder aufgrund anderer Handicaps (z.B. Sprachkenntnisse, fehlende Ausbildung, als alleinerziehende Eltern o.ä.) auf dem Arbeitsmarkt einen schweren Stand hatte und sich im fortgeschrittenen Alter selbstständig machten.
Nicht berücksichtigt ist übrigens auch, dass ein erheblicher Teil der aufgrund der niedrigen Honorare ihrer oft öffentlichen Auftraggeber tatsächlich von Altersarmut bedrohten Selbstständigen, darunter z.B. viele Tagespflegepersonen, Integrationslehrer/-innen, Künstler, Publizisten usw. trotz ihrer Rentenversicherungspflicht in einer schwierigen Lage sind, so dass deren Einführung mitnichten zu einer zuverlässigen Absicherung führt. Dies zeigt z.B. eine Studie des FiBS für die Gruppe der Kindertagespflegepersonen, die in zahlreichen Bundesländern darum bangen müssen, auch nur die für einen Grundrenten-Zuschlag nötigen 30 Prozent des Durchschnittseinkommens zu erzielen.
Die steigende Zahl rüstiger Rentner, die zusätzlich zur Rente einer Anstellung oder sehr oft einer selbstständigen Nebentätigkeit nachgeht, nimmt Ulber als Beleg, dass dies vorrangig zur Bestreitung des Lebensunterhalts erfolge. Aktuelle Studien, z.B. des IAB, zeigen dagegen, dass andere Gründe ("Spaß an der Arbeit", "weiterhin eine Aufgabe haben", "Kontakt zu anderen Menschen") viel wichtiger sind.
Auf Basis dieser zweifelhaften Faktenlage macht Ulber im Folgenden dann Äußerungen wie diese:
- "Die meisten Selbstständigen sind in Deutschland nicht obligatorisch für das Alter abgesichert. Diese Selbstständigen besitzen aber sehr viel häufig entweder nicht die notwendigen Mittel für eine freiwillige Altersvorsorge oder sind nicht willens dazu oder beides." (Seite 27)
- "Selbst dann, wenn Selbstständige privat ausreichend für ihr Alter vorsorgen, besteht immer das Risiko, dass die angesparte Vorsorge ihren Wert verliert, sodass eine ausreichende Altersvorsorge selbst bei Vorliegen von Sparfähigkeit und -bereitschaft nicht garantiert werden kann." (Seite 27)
- "Es handelt sich insoweit um einen Schutz vor eigener Unvernunft durch die Pflicht zur Eigenvorsorge. (Seite 31)
- "Die gegenwärtig prekäre wirtschaftliche Lage gerade von Soloselbstständigen führt zudem häufig zu einem Verzicht auf Eigenvorsorge. Auf Eigenvorsorge kann daher hier kaum gesetzt werden. (Seite 33)
- "Zudem zeigt sich in der Praxis, dass ein großer Teil der Selbstständigen eine solche Eigenvorsorge tatsächlich nicht betreibt." (Seite 34)
- "Das gilt umso mehr dann, wenn ein signifikanter Teil einer Personengruppe, hier der Selbstständigen, Anlass dafür gibt, davon auszugehen, dass eine hinreichende Eigenvorsorge nicht betrieben wird." (Seite 39)
- "Es geht nicht an, dass diejenigen, deren Beschäftigungsverhältnis durch eine Pflichtvorsorge zum Alter wirtschaftlich durch Sozialabgaben belastet ist, auch noch diejenigen durch ihre Steuern zu subventionieren, die hierauf verzichten." (Seite 54 f.)
Damit, dass Selbstständige nicht nur Arbeitgeber- und -nehmerbeiträge bezahlen, sondern dies auch noch auf Basis hoher Mindestbeiträge und einer mindestens 20 Prozent höheren Bemessungsgrundlage als bei Arbeitnehmern, hat sich Ulber nicht beschäftigt. In Bezug auf die Höhe der Beitragsbelastung schreibt er:
- "Deswegen ist der Einwand einer (zu) hohen Beitragslast gegenüber der Einbeziehung in eine Sozialversicherung von vorne herein untauglich." (Seite 38)
- "Bei einer Einbeziehung von Selbstständigen hätte dies zur Folge, dass diese den (aus Sicht der Arbeitnehmer) doppelten Beitrag zahlen müssten, weil sie keinen Arbeitgeber haben, der die andere Hälfte einzahlt. Das kann zwar im Einzelfall finanziell herausfordernd sein, ist aber systemgerecht." (Seite 51)
- "Systeme, vergleichbar zur Künstlersozialkasse, die zumindest für Solo- Selbstständige von einer hälftigen Beitragszahlung durch die Auftraggeber ausgehen, sind denkbar, aber nicht vorzugswürdig und mit Zweifeln hinsichtlich ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit behaftet." (Seite 52)
Auch ich bin der Auffassung, dass Soloselbstständige Arbeitgeber und -nehmerbeitrag tragen müssen und das KSK-Modell kein Vorbild für alle Selbstständigen sein sollte, aber es kommt doch auf die prozentuale Höhe der Beiträge an. Wenn diese höher sind als bei Arbeitgeber und -nehmer zusammen, sind sie sehr wohl ein taugliches und wichtiges Argument.
Dass sich Ulber in seinem Gutachten hauptsächlich an Solo-Selbstständigen abarbeitet, darf nicht darüber hinweg täuschen, dass die Altersvorsorgepflicht auch für die Arbeitgeber unter den Selbstständigen eingeführt werden soll. Und nicht nur für diese, sondern auch für Selbstständige, die bereits obligatorisch vorsorgen, nämlich kammerpflichtige Freiberufler. Für beide Gruppen steht nun wirklich nicht in Frage, dass sie in aller Regel gut für ihr Alter abgesichert sind.
Ulber schreibt: "Die Absicherung durch berufsständische Versorgungswerke ist im Vergleich zur rein privaten Vorsorge zwar finanziell gesehen eine sicherere Alternative zur gesetzlichen Rentenversicherung, wirft aber andere Probleme auf. Gleichheitsrechtlich ist es problematisch." (Seite 28)
Damit mag er recht haben, allerdings geht der als Hochschullehrer verbeamtete Ulber bei der Diskussion der Gleichbehandlung an keiner Stelle auf Mitglieder des Bundestags, auf Beamte, Richter usw. ein. Kein/e Rentenversicherte/r wird – auch wenn er oder sie durchgängig die Höchstbeiträge bezahlt – auch nur annähernd die Pension eines Grundschullehrers erhalten, der ebenso viele Jahre gearbeitet hat. Wäre das unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung nicht auch diskussionswürdig? Doch die Wörter "Beamte", "Abgeordnete", "Richter" sucht man in Ulbers Gutachten vergeblich.
Statt dessen wirft er den berufsständischen Versorgungswerken vor, sich die besten Risiken herauszupicken und fordert, sie ebenfalls rentenversicherungspflichtig zu machen. Dass Freiberufler angesichts ihrer längeren Lebenserwartung aus Sicht einer Rentenversicherung schlechte Risiken sind, weil sie ja länger und damit höhere Leistungen beziehen, übersieht der Autor:
"Insbesondere im Bereich der Selbstständigen, denen nicht der Vorwurf gemacht werden kann, keine Eigenvorsorge zu betreiben, etwa soweit sie in berufsständische Versorgungswerke eingezahlt haben, müssen Übergangsregelungen gefunden werden. Alle diese Probleme sind aber durch großzügige Übergangs- und Stichtagsregelungen lösbar. Für einen Fortbestand der Versorgungswerke spricht zwar aus politischer Perspektive, dass die rechtspolitischen Auseinandersetzungen hierüber gravierend sein werden. Der Grund dafür liegt aber darin, dass die Versorgungswerke eine positive Risikoselektion zugunsten ihrer Versicherten betreiben, die es ihnen ermöglicht, diesen höhere Leistungen zuzusagen, etwa weil Kosten für vorgezogene Altersrenten wegen Berufsunfähigkeit nicht in gleichem Maße eingepreist werden müssen. Das aber verletzt den Solidargedanken einer gesamtgesellschaftlichen, gemeinsamen Altersabsicherung. Denn auch für die Versicherten der Versorgungswerke muss, bis diese eine auskömmliche Altersversorgung erreicht haben, die Allgemeinheit eine Mindestabsicherung finanzieren."
Nach seinem Vortrag macht ihn gleich der erste Fragesteller, der Vertreter einer Pensionskasse, auf seinen Denkfehler aufmerksam: eine längere Lebenserwartung sei keine positive Risikoselektion, sondern wegen der längeren Rentenzahlungen teurer. Der Professor antwortet, dass sich der Fragesteller da sicher viel besser auskenne als er…
Mit der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Opt-Out-Möglichkeit, die sich bisher auf Rürup-Renten beschränkt und von daher ohnehin wenig attraktiv ist, macht Ulber kurzen Prozess und wirft hier abermals die nicht obligatorisch Versicherten, für die die AVP eingeführt werden soll, mit den kammerpflichtigen Freiberuflern durcheinander:
Die "Idee ist vor allem, dass damit der Widerstand von regelmäßig gutverdienenden Freiberuflern, die bereits in Versorgungswerke einzahlen, überwunden werden soll. Mit diesem Zugeständnis, wird für diese Personengruppe die Möglichkeit einer egoistischen Risikoauslese und damit verbundenen Finanzierungsvorteile aufrechterhalten."
Ob Ulber in diesen Worten auch über die Versorgung von Hochschullehrern und anderen Beamten geschrieben hätte?
Wie schon im längeren Zitat oben deutlich wurde, stellt Ulber in dem mittelbar vom BMAS beauftragten Gutachten auch die im Ampel-Koalitonsvertrag vereinbarte Übergangsregelungen in Frage, nach der Bestandsselbstständige von der AVP ausgenommen werden sollen (weil sie zumeist für ihr Alter vorgesorgt haben und eine Einzelfallprüfung mit einer enormen Bürokratie verbunden wäre). Übergangsregelungen billigt er allenfalls kammerpflichtigen Freiberuflern zu:
"Aus verfassungsrechtlicher Perspektive ist eine Einbeziehung von Selbstständigen, auch solchen die bereits über eine (auskömmliche) alternative Altersvorsorge verfügen, in die Rentenversicherung zulässig. Es bestehen keine Bedenken mit Blick auf Art. 2 Abs. 1. 12 Abs.1, 14 Abs. 1 oder Art 3 Abs. 1 GG." (Gemeint sind: Freie Persönlichkeitsentfaltung, Berufsfreiheit, Schutz des Eigentums, Gleichheitsgrundsatz.)
Immobilien als wichtigste Form der Altersvorsorge werden bei Übergangsregelung ignoriert
In Hinblick auf private Rentenversicherungsbeiträge räumt er ein, dass hier noch eine Klärung ausstehe: "Durch das Verfassungsgericht noch nicht abschließend geklärt ist aber die Frage, ob, sofern wegen der Begründung einer Rentenversicherungspflicht bestehende Versorgungsverträge ruhend gestellt werden müssen und daraus hinsichtlich der bestehenden Anwartschaft Nachteile entstehen, ein Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG vorliegen kann."
Auf die Altersvorsorge in Form von Immobilien und einen Bestandsschutz für diese, geht Ulber an keiner Stelle ein. Er ignoriert damit in seinem Gutachten die wichtigste Form der Altersvorsorge von Selbstständigen. Dabei dürften viele Selbstständige bei Einführung einer Rentenversicherungspflicht ohne Bestandsschutz ihren Immobilienkredit nicht mehr bedienen können und zu Notverkäufen ihrer Immobilie gezwungen sein.
Von im Koalitionsvertrag vorgesehenen Kompromissen, die in einem jahrelangen Prozess mühsam ausgehandelt wurden, lässt Ulber in seinem Gutachten wenig gelten. Auch die Verschonung von Existenzgründern ist ihm ein Dorn im Auge: "Insbesondere Ausnahme- und Übergangsregelungen für Existenzgründungen sind daher kritisch zu sehen, da sie zum einen ein Missbrauchs- bzw. Umgehungsrisiko schaffen und es zum anderen nicht wünschenswert ist, Existenzgründungen zu fördern, die keine ausreichende Altersabsicherung der Gründer ermöglichen." (Seite 51)
Dass Gründer/innen, die nicht mit goldenem Löffel im Mund geboren sind, erst einmal in das Wachstum ihres Unternehmens investieren und zuvor oft einige Zeit nötig ist, bis das passende Geschäftsmodell entwickelt und die den Kunden gestellten Rechnungen bezahlt sind, ignoriert der Gutachter. Gründer, die nicht ab dem ersten Tag einen auch für die soziale Absicherung nötigen Gewinn erzielen, sieht er als Missbrauch.
Irritierend finde ich persönlich auch, dass Ulber Soloselbstständige und arbeitnehmerähnlich Selbstständige in einen Topf wirft, so als hätten Soloselbstständige im Wesentlichen zumeist nur einen Auftraggeber. § 2 Satz 1 Nummer 9 SGB IV, der die arbeitnehmerähnliche Selbstständigkeit regelt, benennt er mit "Solo-Selbstständige" (Seite 8), um dann auf Seite 13 zu schreiben: "Bei den Hausgewerbetreibenden lag dies auch an der wirtschaftlichen Abhängigkeit von ihrem (meist einen) Auftraggeber, was sie zu einer sehr frühen Form der Solo-Selbstständigen macht."
Mit seinem Gutachten stellt Ulber der Politik quasi eine "Carte Blanche" aus. Sein Auftrag sei es gewesen, die Verfassungsmäßigkeit einer Altersvorsorge- bzw. Rentenversicherungspflicht zu prüfen. Die Verfassung werde überschätzt ist sein Fazit: "Verfassunsrechtlich geboten ist fast nie etwas" sagt er und: "Es muss verfassungsrechtlich nur nicht offensichtlicher Unsinn sein", der Staat hätte weitreichende Regelungsmöglichkeiten. Alles andere seien politische Entscheidungen.
BSG-Präsident Schlegel überzeugt er damit: "Ich kann dem Gutachten von Professor Ulber in allen Punkten zustimmen." Aus Perspektive von Angestellten auf Selbstständige fragt Schlegel rhetorisch: "Warum arbeite ich überhaupt, wenn ich dann nur so viel bekomme, wie jemand der gar nicht arbeitet." Eine Gelegenheit, ihm zu widersprechen, habe ich als Online-Teilnehmer nicht. Gerne hätte ich ihn darauf hingewiesen, dass Selbstständige sehr viel arbeiten und dass sie am Ende gerne mehr übrig hätten, als jemand, der gar nicht oder viel weniger arbeitet als sie.
Zugleich behauptet Ulber ohne ausreichende Faktengrundlage (siehe oben), es sei offenkundig, dass Selbstständige ihre Sozialversicherungsbeiträge nicht einpreisten und aus dem Arbeitsverhältnis ausbrechen würden, um derselben Tätigkeit dann ohne Altersvorsorge nachzugehen – und so den Wettbewerb verzerrten. Letztlich seien es dann die Arbeitnehmer, die mit ihren Steuern anschließend die Grundsicherung der nicht vorsorgenden Selbstständigen bezahlten.
Darauf bezieht sich später eine Frage von Carlos Frischmuth, Vorstand des Bundesverbands selbstständige Wissensarbeit, der wissen möchte, ob es nicht eher so sei, dass die Selbstständigen mit ihren Steuern den 100 Milliarden Euro umfassenden Bundeszuschuss zur Rentenversicherung finanzierten. Die Selbstständigen zahlten dadurch bereits Pflichtbeiträge, aber ohne, dass sich daraus Rentenansprüche ableiteten. (Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung beträgt gerade einmal 8,1 Milliarden Euro, die beim Renteneintritt zuletzt Selbstständigen erhalten mithin etwa 2,4 Milliarden Euro, wozu die Selbstständigen ebenfalls mit ihren Steuern erheblich beitragen.)
DRV-Präsidentin Roßbach antwortet, die Zahl von 100 Milliarden würde in den Medien falsch dargestellt, es seien nur 75 Milliarden. Staatssekretär Schmachtenberg bedankt sich gut gelaunt für den Einwurf und antwortet mit breitem Grinsen: "Wir müssen diese Sauerei endlich beenden: Selbstständige zahlen ein und kriegen nichts raus. Kommen Sie mit rein, dann profitieren Sie von diesem Geld!" Den hohen Steueranteil rechtfertigt Schmachtenberg historisch: Bismarck habe ursprünglich eine steuerfinanzierte Rente gewollt, hätte sich aber nicht durchsetzen können. Der Bundeszuschuss sei zudem früher schon einmal höher gewesen als jetzt.
Während Ulber durch das Fehlen einer Rentenversicherungspflicht den Wettbewerb zugunsten von (Solo-)Selbstständigen verzerrt sieht, sagt Frischmuth, es sei gerade andersherum: Es seien die Solo-Selbstständigen, die diskriminiert würden durch ein dysfunktionales Statusfeststellungsverfahren, das zudem noch immer nicht digital sei. (Er spielt dabei darauf an, dass DRV-Präsidentin Roßbach ein komplett automatisiertes Verfahren zum Beitragseinzug von rentenversicherungspflichtigen Selbstständigen angekündigt hatte – mit umfangreichem Datenaustausch mit der Finanzverwaltung.)
"Das [Statusfeststellungsverfahren] ist ein ganz anspruchsvolles Verfahren. […] Wir werden auch bei uns im Haus die technischen Möglichkeiten nutzen, um die Mitarbeiter besser zu unterstützen", antwortet Roßbach, die die Clearingstelle bei der DRV selbst mit aufgebaut hat. Auf die längst überfällige Online-Durchführung des SFV macht sie keine Hoffnung. Auch dass die Einführung EU-weiter Kriterien zu einer Vereinfachung führen würde, erwartet sie ebenfalls nicht. Es sei unabhängig davon weiterhin nötig, die tatsächlich gelebten Verhältnisse zu prüfen. Aus ihrer Sicht löst sich das Problem zum Teil dadurch, dass sich nach Einführung der AVP "viele sagen, dann mache ich mich nicht mehr selbstständig, bleibe angestellt". Dies wertet Roßbach als Erfolg!
"Wenn wir die Einbeziehung in alle Zweige der Sozialversicherung vollzogen haben", antwortet Staatssekretär Schmachtenberg, werde sich das mit der Rechtsunsicherheit etwas relativieren, das Statusfeststellungsverfahren bleibe aber wichtig. Zudem sei ja im April 2022 das Verfahren reformiert und u.a. das Prognose- und Gruppenverfahren eingeführt worden. Dies werde inzwischen auch genutzt. Ob es funktioniere oder ob einen die Prognosen "um die Ohren fliegen würden" könne er noch nicht sagen.
Bei der Veranstaltung in Berlin teils persönlich anwesende Vertreter von Berufsverbänden (sie nutzten im Anschluss an die Online-Übertragung noch die Gelegenheit, sich ausführlicher mit den Podiumsteilnehmern zu unterhalten), besteht später der Eindruck: Weder will das Bundesarbeitsministerium im Gegenzug zur Einführung einer Altersvorsorgepflicht Rechtssicherheit gewähren noch sicherstellen, dass zeitgleich eine faire Beitragsbemessung eingeführt wird.
Nicht einmal eine gleichzeitige Senkung der hohen GKV-Mindestbeiträge ist sichergestellt: Das Bundesgesundheitsministerium wisse um das Vorhaben, sagt Schmachtenberg. Die GKV-Mindestbeiträge zu senken, sei die Arbeit eines "halben Vormittags, wenn man es will". Doch am Willen selbst zu dieser längst überfälligen und im Koalitionsvertrag vereinbarten Änderung scheint es zu fehlen: Das sei eine Frage der Gegenfinanzierung und die Krankenversicherung laufe auf "schmalen Kassen".
Andererseits nennt Schmachtenberg es "politisch darstellbar". Man habe das Thema im Auge. Beim ersten Senkungsschritt sei der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn aber zu schnell gewesen und habe sie zum 1.1.2019 vollzogen, während das BMAS die Einführung der AVP verschoben habe. Da fände er es nicht schlimm, wenn die endgültige Gleichstellung mit Angestellten noch etwas länger dauere, erklärt der Staatssekretär.
Dass sich GKV-versicherte Selbstständige mit geringem Einkommen damit weiterhin bis zu 60 Prozent Belastung allein durch Sozialabgaben gegenübersehen und auch oberhalb der Mindestbeiträge mindestens 20 Prozent höhere Beiträge als Arbeitgeber und -nehmer zahlen müssen, erwähnt Schmachtenberg nicht. Wie wenig im Geldbeutel bzw. auf dem Girokonten von Selbstständigen angesichts solcher Belastungen nach Einführung der AVP noch übrig ist, scheint niemand im BMAS zu wissen bzw. zu stören.
BSG-Präsident Rainer Schlegel antwortet, von einer Teilnehmerin auf die hohen GKV-Mindestbeiträge für Selbstständige angesprochen: natürlich müsse es solche Mindestbeiträge geben. "Eine Quersubventionierung von den Arbeitnehmern zu den Selbstständigen, das kann nicht funktionieren." Tatsächlich verhält es sich ja gerade umgekehrt.
Auf den berechtigten Hinweis einer VHS-Lehrerin, es sei ungerecht, dass die Sozialversicherungsbeiträge bei Arbeitnehmern und Selbstständigen auf anderer Basis berechnet werden, antwortet DRV-Präsidentin Roßbach, Bruttogehalt und Gewinn könne man nicht vergleichen, das sei schwierig. Aber dafür hätten Selbstständige ja ganz andere Möglichkeiten, Ausgaben steuerlich abzusetzen. (Dabei sind Gewinn und Bruttogehalt eigentlich ganz einfach zu vergleichen: Der Gewinn einer Einzelunternehmerin muss zusätzlich zum Bruttogehalt auch den 20-prozentigen Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung finanzieren – und da dieser anders als bei Arbeitgebern nicht als Betriebsausgabe geltend gemacht werden kann, sind die Sozialversicherungsbeiträge von Selbstständigen auch auf diese zu leisten und sind deshalb 20 Prozent höher als die von vergleichbaren Arbeitnehmern und -gebern zusammen. Einzelunternehmer/innen können nicht mehr, sondern deutlich weniger absetzen!)
Ein möglichst unattraktives Opt-out bedeutet die Rentenversicherungspflicht durch die Hintertür
Nach obenAuch das im Koalitionsvertrag festgeschriebene Opt-out in eine private Altersvorsorge genießt unter den Panel-Teilnehmern wenig Sympathie. Ulber hat dies ja schon in seinem Gutachten dargelegt (siehe oben). Schmachtenberg sagt: "wegen mir persönlich könnte man das Opt-out auch weglassen". Auf jeden Fall werde das Opt-out "kein Billigangebot" werden.
DRV-Chefin Roßbach ergänzt: "Wir finden es auch schwierig mit dem Opt-out." Das mache viel Arbeit. Vergleichbare Beiträge in eine Rürup-Rente einzuzahlen, reiche ihr zudem nicht aus (obwohl schon die Einschränkung des Opt-outs auf diese Art der Altersvorsorge aufgrund des teuren Versicherungsmantels insbesondere für Geringverdiener wenig attraktiv ist). Auch im Rahmen des Opt-out müssten, so fordert Roßbach, alle Risiken abgesichert werden, die auch die DRV absichert. "Die Hürden werden also hochgesetzt." (Hier haben private Wettbewerb jedoch systematische Nachteile gegenüber der DRV bei der Beitragskalkulation. Zudem verfügen viele Selbstständige bereits über eine Berufsunfähigkeitsversicherung, so dass diese Ausgestaltung zu einer teuren Überversicherung führen würde.)
Unser Fazit: Die Opt-outs sollen möglichst unattraktiv ausgestaltet werden, damit man die Vorzüge der DRV "erkennt". Das alles läuft, so der Eindruck der anwesenden Verbandsvertreter, auf eine Rentenversicherungspflicht durch die Hintertür hinaus.
Selbst an der Bereitschaft zur Einhaltung der Vorgabe des Koalitionsvertrags, die Bestandsselbstständigen sollten von einer Vorsorgepflicht verschont bleiben, gibt es unter den Teilnehmern nach den Gesprächen an diesem Abend erhebliche Zweifel. Staatssekretär Schmachtenberg tröstet sich über die Verschonung des Bestands damit, dass die Fluktuation unter Selbstständigen ja erheblich sei und viele deshalb spätestens bei der nächsten Gründung in die Pflicht genommen werden könnten. Das lässt aufhorchen: Soll womöglich ein Selbstständiger, der ein weiteres Unternehmen gründet oder zwischendurch geringe Umsätze oder einen Verlust macht, wie ein Neugründer behandelt werden?
Bei der Vorstellung der BMAS-Pläne für die AVP wird man also mit einem Gesetzentwurf rechnen müssen, der versucht, den Koalitionsvertrag auszuhebeln. Wir werden ganz genau auf jedes Detail achten müssen und uns auf keine der bisherigen Zusagen verlassen können. Dafür müssen wir uns schon jetzt gut aufstellen.
Ohnehin sieht Schmachtenberg die AVP nur als Einstieg in die Versicherungspflicht. In der nächsten Legislaturperiode können man dann zum Beispiel darüber nachdenken, in welcher Branche man eine Auftraggeberbeteiligung einführen könne. Die Umsetzung sieht er zwar als schwierig an, weil die Rechnung eines Selbstständigen oft noch andere Leistungen enthalte als nur seinen Lohn. Realistisch sieht er darin kein Instrument, um die Honorare zu erhöhen, sondern eine "klügere Form des Beitragseinzuges".
Renate Gensch, freie Journalistin und im Bundesvorstand der zu ver.di gehörenden Deutschen Journalist/innen-Union sagt, man bekomme beim Zuhören den Eindruck als wenn die Selbstständigen selbst schuld wären, wenn sie nicht genug einzahlen. Das läge aber doch an der schlechten Bezahlung von freien Mitarbeitern im Rundfunk- und Medienbereich. Damit hat sie den Nagel auf den Kopf getroffen, denn selbstständige Journalisten sind über die Künstlersozialkasse in der Deutschen Rentenversicherung pflichtversichert. Der Logik der Diskutanten folgend, müsste damit ja automatisch eine gute Rente sichergestellt sein, was aber mitnichten der Fall ist. Denn entscheidend für eine gute Altersvorsorge ist nicht in erster Linie die Art der Vorsorge, sondern die Honorarhöhe. Und hier sparen vor allem öffentliche Auftraggeber an den Selbstständigen.
Wer gibt mir denn die Garantie, dass ich nach 30 Jahren von meiner Rente leben kann?
Immer wieder sagten die Diskutanten beiläufig, private Formen der Altersvorsorge seien unsicher. Unser ebenfalls anwesender Berliner Regionalgruppensprecher Lars Bösel fragte Staatssekretär Schmachtenberg deshalb: "Wer gibt mir denn die Garantie, dass ich nach 30 Jahren von meiner Rente leben kann?" Schmachtenberg antwortete, in den USA sei das Vertrauen in die private Altersvorsorge viel höher, weil man dort nicht zwei Weltkriege und Wirtschaftskrisen erlebt hätte, die alle Ersparnisse ausgelöscht hätten. Aber auch die Fähigkeit, eine ordentliche Rente zu zahlen, hänge letztlich an unserer wirtschaftlichen Leistungskraft als Landes, an der wiederum die Selbstständigen einen wichtigen Anteil hätten. (Wie es um die Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstum Deutschlands wohl aussehen wird, wenn es aufgrund der Politik der letzten Jahre viel weniger Selbstständige gibt? Vgl. dazu die Studien des ifo Instituts und des Instituts für Wirtschaftsforschung.)
Am Ende der Diskussion werden die Panelteilnehmer um ihr Fazit gebeten. Die Beamten sind sich einig: Die AVP soll kommen. Staatssekretär Schmachtenberg spricht, die Paneldiskussion zusammenfassend, von von einem breiten Konsens in der Gesellschaft, über den er sich sehr freue. "Wir sollten jetzt den Mut haben das zu tun."
Ulber wird philosphisch: "Alle Probleme sind lösbar, man wird aber nicht alle Probleme von Anfang an gelöst haben." Und spricht in diesem Zusammenhang vom Gesetzgeber als einem "Elefant im Porzellanladen, der unter Bewegungsdrang leide". Es könnte also in Deutschland und speziell bei der sozialen Absicherung von Selbstständigen kräftig rumpeln. Und das findet er gut.
Wir fordern eine faktenbasierte und respektvolle Diskussion über die Zukunft unserer Altersvorsorge!
Nach obenWir empfinden das vom "Haus der Selbstständigen" beauftragte und vorgestellte Gutachten im Ton und Inhalt als Selbstständigen- und Freiberufler-feindlich. Auf Basis irreführender Zahlen wird ein Bild von Selbstständigen als verantwortungslosen Menschen gezeichnet, die ihr Geld im Hier und Jetzt verprassen, um dann im Alter auf Kosten der Allgemeinheit zu leben.
Dass die Grundsicherung ein solches Leben in Saus und Braus nicht zulässt, sollten die aus den Gewerkschaften stammenden Mitarbeiter/innen des "Haus der Selbstständigen" eigentlich wissen, um so mehr erstaunt die Darstellung an diesem Nachmittag.
Gerne sprechen wir als VGSD und BAGSV konstruktiv mit den Verantwortlichen im BMAS über die Einführung einer Altersvorsorgepflicht. 2019 haben wir an vier Fachgesprächen zu diesem Thema im Arbeitsministerium teilgenommen und schon damals zahlreiche fachlich fundierte Beiträge und Anregungen gegeben. Basis dafür ist aber eine faktenbasierte und respektvolle Diskussion.
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